Paul Auster wird 70.:Vier Fliegen, eine Klappe

Paul Auster

Paul Auster, geboren 1947 in Newark, New Jersey, wurde 1987 mit seiner"New-York-Trilogie" international bekannt.

(Foto: J. Casares/dpa)

Zu seinem 70. Geburtstag blickt Paul Auster in einem Roman und einem Gesprächsband zurück auf sein Leben und Schreiben - und liefert erneut ein Verwirrspiel aus Wirklichkeit und Fiktion.

Von Burkhard Müller

Wer einen Roman von fast 1300 Seiten Umfang schreibt, der sollte wissen, was er tut, und seine Gründe haben, denn er verlangt dem, den er als Leser gewinnen will, Erhebliches ab. Bei Paul Austers Bildungsroman mit dem zunächst recht rätselhaften Titel "4 3 2 1" versteht man diese Gründe erst relativ spät: Es handelt sich nicht nur um einen Lebenslauf, den sein Protagonist Archie Ferguson, vom auktorialen Erzähler mit distanzierter Zärtlichkeit immer nur Ferguson genannt, hinter sich zu bringen hat, sondern um vier, die sich je alternativ an bestimmten Weggabelungen auftun.

Angedeutet wird dieses Prinzip schon früh im Buch durch einen Witz, der in der knappest möglichen Form die Gründungsgeschichte der Familie umschließt. Als der Urgroßvater Ende des 19. Jahrhunderts völlig ahnungslos aus seinem osteuropäischen Schtetl nach Ellis Island kommt, rät ihm ein schon länger ansässiger Landsmann, statt seines unaussprechlichen und stigmatisierenden Namens bei der Registrierung lieber anzugeben: Rockefeller - was der Ahn auch zu tun verspricht.

Aber als es so weit ist, sprudelt es in verzweifeltem Jiddisch aus ihm heraus: Ich hob vargessan! Der diensthabende Beamte, der die kommunikative Situation verkennt, trägt infolgedessen als Name des Neuankömmlings ein: Ichabod Ferguson. Wie anders, so grübelt der Erzähler, wäre das Leben dieses Neubürgers verlaufen, wenn er sich an Rockefeller erinnert und ihn jedermann für einen armen, aber immerhin für einen Verwandten des reichsten Manns der Welt gehalten hätte! Oder auch, wenn er, unberaten, bei seinem alten osteuropäischen Namen geblieben wäre. Ein nur Augenblicke währender Zufall, der aber natürlich seine tieferen Ursachen hat, entscheidet über alles Weitere.

Nach diesem Muster wird auch der junge Archie in vier verschiedene Richtungen zugleich geschickt; jedes der sieben Großkapitel ist folglich viergeteilt. Darin aber, dass der Leser dieses Prinzip so spät begreift, offenbart sich das strukturelle Problem des Buchs: Die Alternativen sind gar keine. Alle vier möglichen Biografien haben so große Ähnlichkeit miteinander, dass man sie, wenngleich mit einigen kleineren Beirrungen, als Bestandteil einer einzigen Erzählung wahrnimmt, die man unschwer als die Geschichte von Auster selbst erkennt.

Unweigerlich autobiografisch

Beide, Auster und Ferguson, stammen aus dem jüdischen Milieu von Newark in New Jersey, beide zeichnen sich frühzeitig durch literarische und übersetzerische Ambitionen aus, beide durchleben den Aufruhr der Sechziger von seiner schönen wie von seiner schrecklichen Seite. Und beide haben dabei eine privilegiertere Position inne, als sie in ihrem Außenseiter-Habitus wahrhaben wollen. Demgegenüber fallen die Differenzen bescheiden aus: Ob Ferguson jetzt eher die New Yorker Columbia University besucht (wie Auster es tat) oder für einige Zeit nach Paris geht (wie Auster es gleichfalls tat), das ändert ihn nicht im Kern und kaum in den Umständen.

Studentendemonstration in New York, 1968

Bildungsgeschichte: Sit-in an der Columbia University 1968 während der Proteste gegen den Vietnamkrieg.

(Foto: UPI)

Einmal bildet er für längere Zeit mit seiner Stiefschwester Amy ein Paar, ein anderes Mal mit Celia, der Schwester eines früh gestorbenen Freundes - das Motiv der aus dem Geschwisterlichen erwachsenden erotischen Leidenschaft erfährt dabei nur geringe Verwandlung; ja nicht einmal, wenn sich Ferguson in einer weiteren Variante mit dem elfenhaften Verleger seines ersten Buchs in den Federn tummelt. Zwar wird er in einer Version als Zwanzigjähriger, wie der deutsche Dichter Rolf-Dieter Brinkmann, in London von einem Auto erfasst und getötet, weil er mit dem Linksverkehr nicht zurechtkommt, und die Seiten der entsprechenden Kapitel bleiben von nun an leer. Und einmal stirbt Fergusons Vater durch Brandstiftung, während er sich ein anderes Mal von ihm nur entfremdet. Aber immer bleibt er dabei das ebenso schmerzensreiche wie gehätschelte Wunderkind, herausragender Baseball- und Basketballspieler und frühreifer Poet, der seine ersten Erzeugnisse scheu hütet, dann aber doch mit ihnen herausrückt und von allen Seiten zu hören bekommt, was für ein toller Hecht er sei. Das mal vier ist ziemlich öde. Mit anderen Worten, das Buch ist für das, was es liefert, definitiv zu lang.

Nicht als ob die Biografie des amerikanischen Dichters als junger Mann an sich keine derartigen Strecken zuließe - dass und wie so etwas geht, hat schon in den Dreißigerjahren Thomas Wolfe mit seinem noch dickeren Doppelwerk "Schau heimwärts, Engel" und "Von Zeit und Fluss" gezeigt. Doch bei Auster tritt die Schreibenergie durch vier getrennte und dabei allzu gleichartige Röhren aus. Das schwächt den hydraulischen Druck. Die Qualität des Dringlichen, bei Wolfe auf jeder Seite anzutreffen, stellt sich bei Auster nirgends ein. Er selbst scheint zu fühlen, dass hier etwas nicht zureicht, und versucht komprimierend auf seinen Stoff einzuwirken, indem er alles, was er sagen will, möglichst in einen einzigen Satz zusammenzwingt.

Ist das Lesen eine Reise?

Das hört sich zum Beispiel, wenn von Fergusons Paris-Erfahrung die Rede ist, so an: "Paris war der Film von Paris, eine Anhäufung aller Paris-Filme, die Ferguson gesehen hatte, und wie inspirierend war es, sich jetzt an dem wirklichen Ort zu befinden, wirklich in seiner ganzen prächtigen und anregenden Wirklichkeit, und doch mit dem Gefühl umherzugehen, es wäre auch ein imaginärer Ort, ein Ort zugleich in seinem Kopf und in der Luft, die seinen Körper umgab, ein gleichzeitiges Hier und Da, eine schwarzweiße Vergangenheit und eine farbige Gegenwart, und Ferguson machte es Spaß, zwischen beidem hin und her zu pendeln, wobei seine Gedanken manchmal so schnell waren, dass beides miteinander verschwamm." Das sind lauter Allgemeinheiten, die auf dem Weg der Beteuerung in die Besonderheit einer Geschichte herübergeholt werden sollen.

So geht es ständig zu in diesem Buch, wenn es etwa die Atmosphäre des damaligen Kinos durch lange Aufzählungen von Schauspieler-Namen aufrufen will oder die unruhige Zeit an der Columbia als eine Art Doku-Drama handhabt, bei dem Ferguson als Figur so gut wie keine Rolle mehr spielt. Immerhin hat dieses etwas steife Panorama den Vorzug, fühlbar zu machen, dass Amerika vor fünfzig Jahren schon einmal ziemlich genau an demselben Punkt angelangt war wie heute: im Inneren zerrissen bis an den Rand des Bürgerkriegs, im Äußeren festgenagelt auf eine Ostasien-Politik, die, bei aller Aggressivität, das eigene Interesse aus den Augen verliert.

Leseproben

Einen Auszug aus dem Roman "4 3 2 1" stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Einen Auszug aus dem Buch "Ein Leben in Worten" stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Parallel zum Roman erscheint ein Band mit Gesprächen, die Auster mit der dänischen Literaturwissenschaftlerin Inge Birgitte Siegumfeldt geführt hat. Auf 400 Seiten gehen sie sein Werk Stück für Stück durch. Es kommt wenig Überraschendes dabei heraus; zum einen, weil Siegumfeldt sich allzu sehr für ihren Autor begeistert, zum anderen, weil auch Auster stark philologisch veranlagt ist (und zu höflich).

Das Buch als Echokammer

Austers vieldeutige Geschichten werden interpretatorisch enggeführt, und die beiden ruhen nicht, bis sie aus Namen wie Born oder Brill auch die letzte mögliche Assoziation hervorgelockt haben. Ist Lesen eine Reise? Ist es Trauerarbeit? Lässt sich von einem Buch sagen, es sei eine Echokammer? Muss der Leser sich aktiv am kreativen Prozess beteiligen? Und welche Rolle spielen beim Schreiben Intuition und Bauchgefühl? Solche Fragen stellen sich immer wieder, und die Antworten darauf sind nicht wirklich neu. "IBS: Multiple Perspektiven machen die Erzählung komplexer? PA: Ja, wahrscheinlich. IBS: Ich meine, nicht nur in Hinsicht auf die erzählte Perspektive - das hat auch Auswirkungen auf die Struktur. Geht beides vielleicht Hand in Hand? PA: Möglich. Bei ,Unsichtbar' empfand ich zum ersten Mal das Bedürfnis, verschiedene Stimmen zu verwenden." So klingt das die ganze Zeit.

Das Beste sind die Zitate aus Austers Büchern, die nicht nur die Interviewerin, sondern auch der Autor stets parat hat. Da er sein eigenes Leben so umfassend in die Bücher eingearbeitet hat, erfährt man auch nicht viel bisher Unbekanntes über seine Biografie. Ferguson beispielsweise ist im selben Jahr 1947 geboren wie sein Verfasser, der an diesem Freitag seinen 70. Geburtstag feiert.

Paul Auster: 4 3 2 1. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 1254 S., 29,95 Euro. E-Book 26,99 Euro.

Paul Auster: Ein Leben in Worten. Ein Gespräch mit Inge Birgitte Siegumfeldt. Aus dem Englischen von Werner Schmitz und Silvia Morawetz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 416 S., 12,99 Euro. E-Book 10,99 Euro.

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