Belletristik:Schwesterherz

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Elfrieda ist eine gefeierte Konzertpianistin, aber sie sagt, sie habe ein gläsernes Klavier im Bauch und Angst, dass es zerbricht. (Foto: BilderBox.com)

Die kanadische Autorin Miriam Toews erzählt in ihrem Roman "Das gläserne Klavier" eine schmerzlich-komische Geschichte über eine Familie mit Hang zum Suizid.

Von Franziska Wolffheim

Das Unglück kann viele Facetten haben, es kann banal und tragisch, kurios und herzzerreißend, erwartbar und völlig überraschend sein. Miriam Toews, eine der wichtigsten Autorinnen Kanadas, jongliert in ihrem neuen Roman mit den verschiedenen Spielarten des Unglücks und sie tut das so souverän und selbstverständlich, mit einem so lapidaren Humor, dass sie ihrem düsteren Romankosmos immer wieder Momente der Heiterkeit abringen kann. Selten hat man einen stellenweise so komischen Roman über das Sterben gelesen wie Miriam Toews' "Das gläserne Klavier".

Eine Quelle des Unglücks ist ein Selbstmord-Gen, das die mennonitisch geprägte Familie bestimmt, um die es hier geht. Eine Familie, die immer mehr dezimiert wird, ständig bestrebt, die wenigen, die noch da sind, zusammenzuhalten, dem ewigen Fluch zu trotzen. Ein kleines, finster entschlossenes Bataillon, das nur einen einzigen Feind kennt: sich selbst. Oder, in Miriam Toews' Worten über die wiederholten Freitode in der Familie: "Wir haben das alles schon mal erlebt. Es ist alles nur eine Neuauflage."

"Wir waren Feinde, die sich liebten", heißt es einmal

Die mögliche Neuauflage des Familiendramas hat in diesem Fall mit Elfrieda von Riesen zu tun, die schon mehrmals versucht hat, sich umzubringen. Elfrieda, eine weltweit gefeierte Pianistin, Ende vierzig, schön, verheiratet mit einem liebevollen Mann. Während sie anscheinend alles erreicht hat, improvisiert sich Yolandi, ihre jüngere Schwester, durch ihr Leben hindurch. Sie lebt in Toronto, hat zwei Kinder, ist mitten in der Scheidung und schreibt an einem Manuskript, das sie in einer Safeway-Tüte mit sich herumträgt. Keine Erfolgsmeldungen - im Gegensatz zu der auf den ersten Blick glamourösen Biografie ihrer Schwester.

Elfrieda, die in Winnipeg lebt, ist nach einem missglückten Selbstmordversuch in der Psychiatrie eines Krankenhauses gelandet, die geplante Welttournee muss ins Wasser fallen. Nun bittet sie ihre Schwester, sie in die Schweiz zu begleiten, wo sie in Ruhe den Tod finden möchte. Eine Bitte, die Yolandi förmlich zerreißt.

Das Verhältnis der beiden Schwestern steht im Zentrum des Romans. Beide sind geprägt von der auf Konformität und Frömmigkeit gedrillten Gemeinde, von einer umtriebig-lebensbejahenden Mutter und einem depressiven Vater, der sich schließlich vor einen Schnellzug wirft. Da ist sie wieder, die Familien-Hypothek, an der beide Schwestern zu tragen haben. Yolandi weiß, dass sie letztlich wohl auch kapitulieren muss vor dem Todeswunsch der Schwester: "Sie wollte sterben und ich wollte, dass sie lebt, und wir waren Feinde, die sich liebten." So lautet die einfach komplizierte Formel für die Unauflösbarkeit des Unglücks in dieser auf anrührende Weise verkorksten Familie.

Eindringlich sind immer wieder die Szenen, in denen sich die Schwestern nahekommen, obwohl sie doch so vieles trennt, dem Leben zugewandt die eine, todessehnsüchtig die andere. Elfrieda erzählt ihrer Schwester, sie habe ein gläsernes Klavier im Bauch und Angst, es könne kaputtgehen, und sie würde daran verbluten. Ob Yolandi sie verstehen könne? Häufig erzeugt Miriam Toews solche intimen Momente, ganz ohne Kitsch und Pathos. Um dann, nach einem unvermittelten Cut, ins Komische umzuschwenken: Wenn zum Beispiel Elfrieda, die in der Klinik von einer grimmig dreinblickenden Frau bewacht wird, versucht, sich mit ihrer Wächterin über Thomas von Aquin zu unterhalten, was die nur mit einem Schulterzucken quittiert. Komik und Tragik liegen in diesem Roman oft nur ein paar Millimeter auseinander.

Häufig montiert die Autorin Kindheitserinnerungen der Schwestern und Gegenwart in schnellem Wechsel aneinander, was dem Roman eine schöne Dynamik verleiht; auch die hinreißend prägnanten Dialoge geben dem Geschehen Drive. Trotzdem tritt die Handlung gelegentlich auf der Stelle. Damit die Besuche der Familie bei Elfrieda im Krankenhaus nicht zu einer Endlosschleife werden, erweitert die Autorin das Spektrum der diversen "Todesarten" im Roman, um mit Ingeborg Bachmann zu sprechen: Sie lässt die zupackende und ganz und gar nicht depressive Tante an den Folgen einer Herzkrankheit sterben.

Die Autorin stammt ebenfalls aus einer Mennonitengemeinde

Es gibt viele literarische Zitate und Anspielungen im Text, Bezüge zu Virginia Woolf und Sylvia Plath sind mehr als naheliegend; zudem ist der Roman auf amüsante Weise selbstreferentiell. Im Original heißt das Buch, von Monika Baark nuancenreich ins Deutsche übertragen, "All My Puny Sorrows", also: all meine peinigenden Sorgen. Diese Worte wiederum stammen aus einem Gedicht des Engländers Samuel Taylor Coleridge. Elfrieda liebt die romantische Dichtung, speziell Coleridge. Aus "All My Puny Sorrows" macht sie kurzerhand A.M.P.S und sprüht die Abkürzung als Heranwachsende an verschiedenen Orten des Mennonitenstädtchens mit roter Farbe auf - ihre persönliche Rebellion gegen Kleingeisterei und verordnete Lebenstüchtigkeit. Kein Wunder, dass der Pastor ihr einmal vorwirft, "im Elend ihrer frevelhaften Gefühle zu schwelgen".

Miriam Toews, selbst in einer Mennonitengemeinde aufgewachsen, hat in ihrem Roman die eigene Familiengeschichte einfließen lassen. Den Selbstmord des Vaters, den sie bereits in einem anderen Roman thematisiert hat, und den der Schwester. In einer Danksagung am Ende nennt sie auch ihre Schwester, Marjorie Anne Toews: "genial komisch, schmerzlich vermisst". Fast scheint es, als hätte die Autorin hier das Motto ihres eigenen Romans skizziert - genial komisch und schmerzlich zugleich. Ihrer Schwester hat sie mit dem Buch ein Denkmal gesetzt, aber nichts Pompöses, nichts Wuchtiges, sondern eher zurückhaltend und feinsinnig, vielleicht mit ein paar Tupfern roter Farbe besprüht.

Miriam Toews: Das gläserne Klavier. Aus dem Englischen von Monika Baark. Berlin Verlag, Berlin 2016. 368 Seiten, 22 Eu ro. E-Book 17,99 Euro.

© SZ vom 09.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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