Belletristik:Hey Nachbar, das Fläschchen bitte!

Christoph Poschenrieder mischt einen Giftcocktail für eine Alten-WG.

Von Nicolas Freund

"Mauersegler" möchte ein Roman über die Zeit sein. Schön aufbereitet, wie für den Grundkurs Philosophie. Er setzt mit einem aus Vladimir Nabokovs Autobiografie "Erinnerung, sprich" geborgten Gedanken ein: Dass die meisten Menschen merkwürdig beruhigt auf die Ewigkeit ihrer Nicht-Existenz vor der Geburt zurückblicken, während die Ewigkeit nach dem Tod sie mit Schrecken erfüllt.

Anfang und Ende, Wiege und Sarg stehen in dem Text nah beieinander. Carl, der Erzähler dieses Romans, Journalist und Philosophiedozent, befindet sich zu Beginn kurz vor dem Abgrund dieser zweiten, der "Ewigkeit der Finsternis", wie es bei Nabokov heißt. Mit vier Freunden wagt er ein Experiment, auch, um diesem Schrecken gemeinsam entgegenzutreten. Die fünf alten Herren, die sich seit ihrer Jugend in der Kleinstadt kennen, gründen eine Wohngemeinschaft, in der sie wie als Studenten vor fünfzig Jahren zusammenleben. Nur die Weinflaschen kosten jetzt das Zehnfache, und in der Kiesauffahrt des Hauses am Starnberger See steht kein klappriges Fahrrad, sondern ein Porsche.

Die fünf Typen, die Christoph Poschenrieder in die Senioren-WG einziehen lässt, sollen ein Querschnitt durch die Oberschicht Nachkriegsdeutschlands sein. Ein Jurist, der im Rentenalter den Leuten aus Knebelverträgen hilft, die er selbst entworfen hatte. Ein Lebensmitteltechnologe, dessen größter Erfolg eine Marke Fertignudeln war, der aber inzwischen als veganer Ökoaktivist in Supermärkten randaliert. Ein steriler Programmierer, der irgendwie stinkreich geworden ist und im Keller des Anwesens eine Modelleisenbahn aufbaut, aus der er versucht, jeden menschlichen Faktor herauszurechnen. Dazu ein Theaterintendant, der alle Regieassistentinnen des Landes kennt und sonst vor allem Porsche fährt. Carl wiederum war Journalist bei einem "schöngeistigen Magazin" und Honorarprofessor für Philosophie. Deshalb muss er die Geschichte erzählen.

Die fünf wohlsituierten Herren sind vom Tod geradezu besessen

Frauen kommen, außer einer kirgisischen Haushälterin und ein paar nervigen Ex-Partnerinnen, nicht vor. Was sich in dieser elitären Alten-WG zugetragen hat, wird aus einer nahen Zukunft berichtet, in der alle paar Tage die Paketdrohne vor dem Haus landet.

Zwischen den fragmentarischen Aufzeichnungen Carls aus wohl mehreren Jahrzehnten in dieser WG finden sich immer wieder ein paar Zeilen Programmiercode der gerade noch ohne Informatikstudium lesbaren Sprache Python. Sie stammen aus dem makabren "Todesengelprogramm". Das hatte der Programmierer aus dieser Altherren-Bande geschrieben. Keiner der fünf möchte im Alter vor sich hin siechen, deshalb benachrichtigt das Programm, wenn es so weit ist, den vorher bestimmten "Todesengel", einen der Freunde, der dann mit dem Giftfläschchen anrücken soll um dem Leid ein Ende zu machen. Was man für Freunde nicht alles tut.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman Mauersegler stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Die fünf wohlsituierten Herren sind vom Tod geradezu besessen, seit der sechste von ihnen, der kleine Martin, nie so erfolgreich werden durfte wie jeder von ihnen. Als Schuljungen in der Kleinstadt schickten sie ihn über das Eis des zugefrorenen Sees, durch das er einbrach und ertrank. Das Bild Martins unter der dünnen Eisdecke, das Bild der gefrorenen Zeit, wiederholt sich vom Abgrund des Starnberger Sees, an dessen Rand die Alten-WG residiert, bis zum Dorfteich der Modelleisenbahn. Es ist das überstrapazierte Leitmotiv des Romans.

Natürlich haben die Gänsefüßchen nichts mit Gänsen zu tun

Die alten Herren bekommen vom Erzähler alle einen Vogel zugeteilt, er selbst ist der titelgebende Mauersegler. "Ich habe mich in meinem Leben für genau vier Vögel interessiert: die Lerche, die Amsel, den Spatz und den Mauersegler." Der Theatermensch ist eine Mischung aus Pfau und Falke. Und weil diese Totemtiere alle Flügel haben, ist es, zumindest in diesem Roman, vom Menschen nicht mehr weit zum Todesengel, der die Freunde vergiften muss. Denn auch über dem Grab Martins wacht ein solcher Engel, sogar mit einem Schwert - wenigstens ist dieser nicht mit einem Giftfläschchen bewaffnet.

Was auf der Motiv- und Symbolebene manchmal eigenartige Auswüchse hervorbringt, aber auch interessante Verbindungen offenlegt, wird zum nervtötenden Stilmerkmal der Sprache des Romans. Christoph Poschenrieder hat den Erzählstimmen, die Teil der erzählten Welt sind, einen halb-debilen Plapperton verpasst. Das mussten schon einige Figuren in seinem Roman "Das Sandkorn" (2014) erleiden, "Mauersegler" ist jetzt so etwas wie die epische Variante dieses Stilmittels.

Christoph Poschenrieder: Mauersegler

Christoph Poschenrieder: Mauersegler. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2015. 219 Seiten, 2 Abb., 22 Euro. E-Book 18,99 Euro.

(Foto: Diogenes)

"Man entschuldige die Gänsefüßchen, die natürlich auch nichts mit Gänsen zu tun haben - wie so vieles nicht das ist, was es zu sein scheint", heißt es einmal. Ein anderes Mal, schon bissiger, geht es vom Vegetarier über den Veganer zum Hungerkünstler. Erzähler Carl kalauert sich durch die konstruierten Anekdoten der Todesengel-WG, ohne dabei jemals eine assoziative Abzweigung auszulassen. Dass das karikaturenhafte Züge hat und haben soll, weiß der Roman selbst. Das hat zwar einen gewissen Witz, wie der bei der Rollstuhlpanne mit der ADAC-Ehrennadel wedelnde Jurist, der sich zum Einschlafen aus der Neuen Juristischen Wochenschrift vorlesen lässt, doch darüber, sehr durchsichtige Karikatur zu sein, kommen weder der Roman noch sein Personal hinaus.

Die Figuren in dieser Alten-WG mit Todesprogramm müssen typisiert sein, flache Charaktere von einer gewissen Allgemeinheit sein, sonst wäre das Ganze kein Experiment. Leider bleiben sie aber genauso leblos wie die Modelleisenbahn im Keller. Das will nicht zu dem Todesthema passen, und so steht der Leser diesen Strichfiguren, die nach und nach ausradiert werden, seinerseits ziemlich leidenschaftslos gegenüber.

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