Bayreuther Festspiele:Im Sturm der Gesellschaft

102. Bayreuther Festspiele - Götterdämmerung

Julia Rutigliano (Wellgunde), Mirella Hagen (Woglinde), Lance Ryan (Siegfried) und Okka von der Damerau (Floßhilde) (vlnr.) im dritten Aufzug der "Götterdämmerung". Am Ende gab es Buhrufe.

(Foto: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath/dpa)

Schon lange ist ein Regisseur in Bayreuth nicht mehr so ausgebuht worden wie jetzt Frank Castorf zum Abschluss des "Rings". Der Veteran des Regietheaters stand das gut aus - und zwar mit Recht.

Von Andrian Kreye

Der Sturm der Entrüstung war exemplarisch, der dem Regisseur Frank Castorf am Mittwoch nach der Premiere seiner "Götterdämmerung" im Bayreuther Festspielhaus entgegenschlug. Er selbst stand das aus. Mit gutem Recht. Das leidenschaftliche Buh war für ihn die Bestätigung seiner Arbeit.

Als Veteran des Regietheaters gehört es zu seinem Auftrag, damit zu provozieren, einen Klassiker neu zu interpretieren und dabei seine eigene Vision über das Werk zu stellen.

Es war konsequent, ihn für den "Ring" zu engagieren. Das Regietheater hat seine Wurzeln auch in den Fünfzigerjahren von Bayreuth. Wieland Wagner, damals Leiter der Festspiele, betrachtete den Bruch mit der Werktreue als Exorzismus für das NS-belastete Werk seines Großvaters.

Ob so ein Orkan der Buhs künstlerisch und handwerklich gerechtfertigt war oder nicht - diese Debatte ist Sache der Rezensenten. Grundsätzlich ist es aber egal, in welche Richtung die Leidenschaften aufbrausen. Es geht um die Leidenschaft an sich, denn nur die kann zeigen, dass Kultur viel mehr ist als ein Produkt. Der Sturm der Entrüstung ist wichtiger Teil eines grundlegenden Kreislaufs, in dem sich die Gesellschaft immer wieder infrage stellt und bestätigt.

Der Gegenstand ist dabei zweitrangig. Wenn Castorf den "Ring des Nibelungen" mit Bildern der Zeitgeschichte interpretiert, tut er das Gleiche wie der Schriftsteller James Joyce, der Homers Odysseus in einen abstrakten Gedankenstrom packte; wie der Künstler Andy Warhol, der Leonardo da Vincis Mona Lisa zum Siebdruckmuster reduzierte; wie der Punkmusiker Sid Vicious, der Frank Sinatras Hymne "My Way" zu derben Riffs ins Mikro grölte. Genre, Form und Haltung mögen sich unterscheiden. Die Wirkung bleibt dieselbe.

Denn wer sich über die radikale Interpretation eines Werkes aufregt, tut das nicht zwangsläufig aus konservativem Starrsinn. Wenn jemand sagt, ein Kunstwerk sei ihm heilig, ist das nicht nur eine Floskel. Bei Wagner, Homer, Leonardo und Sinatra geht es um Werke, die Menschen und Gesellschaften über lange Zeiten als Sinnstifter begleiten können. Wer das infrage stellt, zweifelt nicht nur an einem Werk, sondern an Persönlichkeiten und Epochen. Für eine Gesellschaft sind solche Auseinandersetzungen wichtig.

Neue Herausforderungen durch den globalen Wandel

Wagner ist dafür in Deutschland die perfekte Ausgangslage. Da steht die historische Belastung des Komponisten auf der einen Seite, das Werk mit seinen hochemotionalen Spannungsbögen auf der anderen. Die Frage bleibt nur, ob Frank Castorf eine Debatte anzetteln kann, die über ästhetische Fragen hinausgeht.

Die Künstler des 20. Jahrhunderts taten sich da leichter. Abstraktion und Verfremdung waren Herausforderungen. Der gesellschaftliche Wandel hatte eine progressive Stoßrichtung. Heute gehören abstrakte Kunst und Punk zum kulturellen Kanon. Und die Bürgerschaft, die sich in den Künsten wiederfindet, kämpft weniger um Fortschritt als gegen die Tücken eines globalen Wandels.

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