Bayernpartie:Kühne Reisen im Autowrack

Annette Lucks assoziative Arbeiten sind in Regensburg zu erleben

Von Sabine Reithmaier

Eine Reise in ein unerschöpfliches inneres Archiv - so lässt sich die grandiose Ausstellung Annette Lucks in Regensburg am besten charakterisieren. Wie sie Erinnerungen in Bilder verwandelt, Fakten und Fiktion, Widersprüchliches und Vages mischt, ein ungeheuer dichtes Geflecht an Assoziationssplittern erzeugt, das trotzdem fragmentarisch bleibt, das ist unbedingt sehenswert.

Die Bildgefüge, egal ob großformatige Ölgemälde, kleine Pinselzeichnungen oder Aquarelle sind komplex. In ihnen gibt es weder Anfang noch Ende, vieles verliert sich im Ungefähren wie Gedanken, die plötzlich abgebrochen und an anderer Stelle weitergesponnen werden. Freilich, die drei großen Säle in der Städtischen Galerie "Leerer Beutel" mit 150 Arbeiten überfordern fast ein wenig. Es kostet Zeit und Geduld, die aus vielen Einzelteilen gewobenen Werke zu entwirren. Um dann zu entdecken, dass letztlich das Ungewisse, das Schwebende, das Nebeneinander verschiedener Sichtweisen das eigentliche Thema ist.

Die Schau ist nicht retrospektiv angelegt, es gibt nur eine lockere Gliederung nach Begriffen wie Sterben & Tod, Hochzeit, Erinnerung oder im Gefängnis der Zeit. Die Titel liefern vielleicht eine kleine Anregung, mehr aber nicht. Annette Lucks wurde 1952 als protestantisches Flüchtlingskind im katholischen Regensburg geboren, wuchs mit zwei älteren Geschwistern in einer Kaserne im Osten der Stadt auf - wusste also früh, wie es sich anfühlt, fehl am Platz zu sein. Sie selbst berichtet im Katalog vom Spagat zwischen Neuanfang, zerstörter Kultur und beraubter Lebensweise. Erinnert sich "an den aufgebrochenen, berüchtigten wie verbotenen Bunker, an die Feuerlilie oder Tigerlilie am Zaun aus Eisenstangenspießen, an die Autowracks auf dem vom Schäferhundepaar Lux und Rosa bewachten Schrottplatz, in welchen wir die kühnsten Reisen antraten und in Wahrheit erst einen Begriff unserer Armseligkeit entwickelten." Die biografische Notiz hilft nicht wirklich weiter, die komplexen Werke sträuben sich gegen einseitige oder eindimensionale Lesarten. Trotzdem verdeutlicht das Nebeneinander der Erinnerungsfetzen ihre Arbeitsweise, das collagenartige Verflechten von Zeichnung, Radierung, Malerei und Text.

In fast allen Werken scheint Lucks von der Zeichnung auszugehen. Schemenhafte Bleistiftskizzen - die Assoziation zu italienischen Fresken stellt sich sofort ein - und scharfe schwarze Linien finden sich überall. Dazu tummelt sich eine Fülle von verschiedenen Wesen in den Bildern. Oft verletzlich zarte Gestalten, die wie in einen Kokon eingeschlossen sind, aber auch Engel mit Flügeln oder Schwertern, immer wieder auch schwebende Tänzerinnen. Häufig auch Texte, eigene und fremde, oft kaum lesbar und auch so der Interpretation entzogen.

Lucks studierte in München beim Surrealisten Mac Zimmermann, zog anschließend mit ihrem Mann nach Italien, renovierte ein Haus, lebt jetzt in München. Einige Werke zeugen von ihrer intensiven Auseinandersetzung mit Literatur, kongenial die schwarzen Pinselzeichnungen zu Marieluise Fleißers Erzählung "Ein Pfund Orangen".

Anregung liefert auch ein zufällig entdecktes Foto, das sie im Zyklus "Die toten Kinder von Freiburg" verarbeitet. 1940 hatte die Wehrmacht versehentlich 60 Bomben über Freiburg abgeworfen, die dabei getöteten Kinder wurden auf dem Stadtplatz aufgebahrt. Lucks schuf bereits Ende der Achtzigerjahre zwei große Radierungen auf Kupferplatten. Diese hat sie bis 2009 immer wieder überarbeitet, übermalt, ergänzt, ganz verschiedene Stimmungen erzeugt und das Unerträgliche ins Erträgliche verwandelt.

Annette Lucks. Flipflop. Malerei, Zeichnung, Keramik. Städtische Galerie im Leeren Beutel, Regensburg, bis 8.11., Di bis So, 10-16 Uhr, Zur Ausstellung ist ein Katalog bei Arnoldsche Art Publishers erschienen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: