80. Geburtstag von Georg Baselitz:Der Leinwandforscher

Baselitz-Ausstellung in der Fondation Beyeler

Georg Baselitz in seiner aktuellen Ausstellung in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel (Schweiz) vor dem Gemälde "Der Brückenchor" (1983).

(Foto: dpa)

An der Kunstakademie bewarb er sich mit einem schlichten DIN-A4-Blatt. Später erweckte er die Malerei immer wieder zu neuem Leben. Heute wird Georg Baselitz 80 Jahre alt.

Von Gottfried Knapp

Georg Baselitz hat fast 60 Jahre lang die Kunstwelt in Atem gehalten, er hat die Akteure des Betriebs, die sich fast alle von der Malerei abgewandt hatten, immer wieder aufs Neue herausgefordert und verärgert, er hat sie überrascht, ja zeitweilig auf seine Seite gezogen, dann aber durch plötzliche Kehrtwendungen wieder verunsichert. Selbst wenn wir zum 80. Geburtstag dieses Mannes nichts anderes zu vermelden hätten als solche Brüche, müssten wir die Lust, zu provozieren, und den Willen, anzuecken, als Sonderleistung anerkennen. Doch diese schroffen Neuansätze haben die Kunst jeweils ein Stück weit nach vorne gebracht. Für uns heute wären die Skandalbilder von einst, die Manifeste und Provokationen nur noch mäßig interessant, wenn sie nicht den Beginn von etwas Neuem angekündigt hätten, wenn sie nicht eindrucksvoll bewiesen hätten, dass die vom Kunstbetrieb, jedenfalls von den Anhängern der Avantgarde-Sekte, für tot erklärte Kunst der Malerei immer wieder zum Leben erweckt werden kann.

Anlässlich des 80. Geburtstags von Georg Baselitz am 23. Januar zeigen mehrere Museen im deutschsprachigen Raum Sonderausstellungen aus ihren Beständen. Die beiden mit Abstand wichtigsten Ausstellungen zum Jubiläumsjahr werden aber an diesem Wochenende in der Schweiz eröffnet. Die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel, die, stets auf der eigenen Sammlung aufbauend, in den letzten Jahren viele begeisternde Ausstellungen zur klassischen Moderne gezeigt hat, kann auch in ihrer großen, alle Schaffensphasen umfassenden Baselitz-Retrospektive auf Werke aus der eigenen Sammlung zurückgreifen. Und das Kunstmuseum Basel hat schon 1970, als die ersten Baselitz-Bilder mit auf dem Kopf stehenden Motiven die Öffentlichkeit irritierten, mutig Zeichnungen des Provokateurs für sein Kupferstichkabinett und später auch Gemälde erworben. Das traditionsreiche Haus kann mit einer ähnlich dichten Sammlung von Papierarbeiten den von der Fondation Beyeler im Vorort organisierten Überblick über das Gesamtwerk ideal ergänzen.

Von Anfang an hatte der Künstler für akademische Einrichtungen nicht viel übrig

Man muss in dem DIN-A4-Blatt, mit dem sich Baselitz als Siebzehnjähriger in der Kunsthochschule in Dresden beworben hat, wahrlich keinen Geniestreich sehen. Aber wie der Schüler auf dem schmutzbraunen Wasserfarbengrund das blassrote Reh ausgesetzt und die Bäume auf ein paar hingehauene schwarze Striche reduziert hat, das ist in seiner unverschämten Lässigkeit fast schon wieder verrückt. Man sieht: Der junge Mann hat die ästhetischen Kategorien, die in Kunstschulen gelten, entweder gar nicht gekannt oder aber trotzig geleugnet. Jedenfalls wird Hans-Georg Kern, der sich später nach seinem Geburtsort Deutschbaselitz benennen wird, auch künftig alle akademischen Einrichtungen, die er als Maler besucht, ähnlich abschätzig beurteilen: die im Osten, weil sie durch thematische Vorgaben die Weiterentwicklung der gegenständlichen Malerei zu verhindern versuchten und die Freiheit des Empfindens extrem einschränkten; die im Westen, weil sie nach dem Krieg die gegenständlichen Darstellungsformen fast ganz abgeschafft und die Abstraktion in der Malerei zur Überlebensformel erklärt hatten.

Zu welchen schreienden Verrücktheiten und knalligen Schockeffekten Baselitz schließlich gegriffen hat, um im Niemandsland zwischen diesen beiden sich ausschließenden und behindernden Ideologien irgendwann wahrgenommen zu werden, bekommen die Besucher der Fondation Beyeler schon beim Betreten der Ausstellung zu spüren. Sie werden fast aufgespießt von dem stangenartig monströs gelängten Geschlechtsteil, das eine gruslige Gestalt auf dem Gemälde "Die große Nacht im Eimer" gleich rechts vom Eingang aus dem Hosenschlitz gezogen und dem Eintretenden entgegengestreckt hat. Als dieses Bild 1963 in Berlin erstmals öffentlich zu sehen war, wurde es schon am zweiten Tag als pornografische Scheußlichkeit beschlagnahmt und erst zwei Jahre später nach einem langen Prozess wieder freigegeben. Heute deutet man es, da die abgebildete Figur die braune Uniformhose der Hitler-Jugend trägt, gerne als eine Satire auf die Heldenposen der Nazi-Zeit. Der im Verhältnis zum schlaffen Körper übergroße Kopf mit dem zerfressenen Gesichtsfleisch jedenfalls vermag den Betrachter das Gruseln zu lehren.

Die Bilder der Sechziger zeigen noch die Verwundungen, die der Krieg hinterlassen hat

Wenn es in der deutschen Kunst eine Reaktion auf die psychischen und physischen Verheerungen des Zweiten Weltkriegs gegeben hat, die sich mit den düsteren Erinnerungen und Beobachtungen von Dix und Grosz nach dem Ersten Weltkrieg vergleichen lässt, dann ist sie in diesem und ähnlichen Bildern von Baselitz aus den frühen Sechzigerjahren zu finden. Sie stellen die hässlichen Deformationen und die schmerzhaften Verwundungen, die der Krieg hinterlassen hat, rücksichtslos zur Schau. Die ganze Wand, die der "Nacht im Eimer" gegenüberliegt, ist mit Bildern behängt, die in einem Lazarett an der Front entstanden sein könnten. Sie zeigen in Übergröße menschliche Füße, die verletzt, verdreckt, vereitert oder verstümmelt sind. Die schmutzigen Farben, die dabei zum Einsatz kommen, wirken fast tröstlich, denn sie lassen blutige Details im Ungefähren verschwinden.

Die Ausstellung in den schönen, auf den Garten sich öffnenden Trakten der Fondation Beyeler ist chronologisch aufgebaut. Auf den Eingangsraum, dessen Werke in einer Art von depressivem Sarkasmus die Kläglichkeit alles Leiblichen ausmalen, folgt der Raum mit den "Helden", also jenen hochgereckten männlichen Figuren, die, von kraftvollen Umrisslinien zusammengehalten und gestützt, einen wirkungsvollen Auftritt auf den großen hochformatigen Leinwänden haben. Doch ihre Vitalität ist ähnlich beschädigt wie die der Kümmerlinge zuvor. Sie werden in einzelnen Titeln zwar "Rebell", "Neuer Typ", "Held" oder "Moderner Maler" genannt, doch ihre Köpfe sind eigentümlich geschrumpft, sie werden von den mächtigen Schultern fast verschluckt. Und mit den berufstypischen Gerätschaften, die sie mit sich tragen, werden sie wohl nie mehr arbeiten können, denn ihre Hände oder Füße bluten, stecken in Fallen oder sind einbetoniert. Der Maler, der mit seiner rechten Hand eine Palette in die Höhe hält, wird an der linken Hand von einer Schraubzwinge gequält; außerdem steht er vor einem Zaun, der ihn am Weiterkommen hindert.

Eine Figur aber scheint sich von den quälenden Hindernissen befreit zu haben; sie schreitet munter nach rechts, als würde sie auf jemanden zugehen. Hier gibt uns der Titel "Bonjour Monsieur Courbet" einen Hinweis, wie wir die Geste deuten dürfen. Baselitz bezieht sich auf das berühmte Gemälde Courbets, das diesen Titel trägt und Menschen zeigt, die den Maler begrüßen. Er erweist also seinem französischen Kollegen, der ein ähnlich trotziges Selbstbewusstsein zeigte, die Ehre.

Seit seiner Jugendzeit sucht Baselitz fast fanatisch nach Bildern, die von anderen gefertigt wurden. Er hat sich im Lauf der Jahrzehnte eine Sammlung von Kunstbüchern angelegt, die in ihrer Vielfalt fast ohne Beispiel sein dürfte. Doch so sehr ihn die bildnerischen Erfindungen anderer Menschen und anderer Völker faszinieren - in seiner eigenen Arbeit kommen die Motive, die anderen so wichtig sind, fast gar nicht vor. Er will keine Geschichten erzählen. Er will die Wirkungsmöglichkeiten der von Inhalten weitgehend befreiten Malerei erkunden, will zeigen, wie aufregend Bilder aussehen können, die auf eine ablesbare Botschaft verzichten. Und dafür sind Dinge, die selber nichts transportieren müssen, am besten geeignet. So hat Baselitz, als er von vermeintlich fortschrittlichen Kollegen gehänselt wurde, dass er als Gegenständlicher irgendwann sogar Kühe malen werde, sofort ein Bild mit Kühen gemalt, um das sich die Museen der Welt heute reißen würden, wenn es noch zum Verkauf stünde. In den beiden Basler Ausstellungen führen die Bilder mit Hunden und Schafen beispielhaft vor, wie Baselitz mit quasi austauschbaren Versatzstücken in Gemälden oder in Zeichnungen Spannung aufgebaut hat.

Lebendige Malerei ist bei ihm auch mit Motiven möglich, die nichts bedeuten wollen

Doch dann passiert plötzlich der Bruch: Der Maler fängt an, die vertrauten Motive horizontal zu zerschneiden und die so entstehenden Schichten leicht gegeneinander zu verschieben. Die "Helden", die Hunde und die blutenden Bäume rutschen auf diese Weise mit ihren Segmenten zu surrealen Einheiten zusammen, die eine große kompositorische Wucht entwickeln. Doch auch mit diesem Effekt gibt sich Baselitz nur kurz zufrieden. Er will als Maler über das Erreichte deutlich hinaus - und stellt sich eine Aufgabe, die sich zuvor noch kein Künstler gestellt hat. Er malt von nun an alle Motive so, dass sie auf dem Kopf stehen. Er muss sich also alle Gegenstände neu erarbeiten. Und jede Figur, die er mit den in die Gegenrichtung zielenden Gesten schafft, entwickelt eine Präsenz, die irritiert, die den Verstand beschäftigt, also den Betrachter zum Reagieren zwingt.

Immer wieder ist behauptet worden, dass sich Baselitz mit diesem Umkehrtrick und auch später in der Remix-Serie mit den Wiederholungen eigener Bilder, also mit den federleichten Zweitfassungen schon einmal bearbeiteter Motive, über seine eigene Einfallslosigkeit hinweggemogelt habe. In Wahrheit hat er damit gezeigt, dass lebendige, die Sinne und den Verstand beschäftigende Malerei auch mit Motiven möglich ist, die nichts bedeuten wollen, die zerschnitten oder auf den Kopf gestellt wurden, oder solchen, die schon einmal von jemand gemalt worden sind.

Baselitz wird von ausländischen Autoren gerne als der Maler beschrieben, der die expressiven Tendenzen, die in der deutschen Kunst seit dem Mittelalter zu spüren sind, in der Gegenwartskunst am reinsten verkörpere. Man könnte hinzufügen: Er ist sicher der Künstler, der die expressiven Ausdrucksformen der Malerei am intensivsten erprobt und erforscht hat.

Georg Baselitz: Retrospektive Werkschau, Fondation Beyeler, Riehen bei Basel. Und: Werke auf Papier, Kunstmuseum Basel, beide bis 29. April.

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