Ballett:Der Wachträumer

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Zum Geburtstag des Choreografen Jiří Kylián, der eine eigene, surreale Bewegungsästhetik kreierte, die den Körper in Fantasien verstrickt. Am Dienstag wird der tschechische Ballettkünstler 70 Jahre alt.

Von Dorion Weickmann

Stille im Orchestergraben, von der Bühne dringt Stöhnen, stoßweises Seufzen im Rhythmus der Schritte. Das sonst so klangselige Ballettpublikum lauscht dem Atem des Kollektivs. Es saugt sich an den Bildern fest, die das Nederlands Dans Theater (NDT) vor ihm ausbreitet. Was Jiří Kylián, der damals 33 Jahre alte Chef der Kompanie, beim ersten Gastspiel in München im Jahr 1980 aus seinen Tänzern herausholt, lässt Zeitgeist und Tradition links liegen. Seine Choreografie der "Psalmensinfonie" von Strawinsky passt weder in die Tanztheater-Schublade noch in die Ballett-Vitrine. 1978 uraufgeführt, ist sie sinnlich und puristisch zugleich. Dem frühen Meisterwerk folgen noch viele weitere, weil Kylián dem NDT vier Jahrzehnte die Treue hält und aus ihm eines der führenden Ensembles Europas macht.

In Stuttgart bildet er mit William Forsyth und John Neumaier eine Art geheimes Triumvirat

Stuttgart ist der Ausgangspunkt dieser phänomenalen Karriere: Während Panzer den Prager Frühling überrollten, reiste der junge Tänzer 1968 von dort aus in den Westen. Vor ihm liegen Jahre unter den Fittichen des choreografischen Übervaters John Cranko. Aber er begegnet am Staatstheater auch zwei Kollegen, mit denen er bald eine Art geheimes Triumvirat bilden, ja dem Ballett die Richtung weisen wird: William Forsythe und John Neumeier. 1970 stellt Kylián seine ersten Werke vor, das Kammerspiel "Paradox" und das Großformat "Kommen und Gehen".

1973 stirbt John Cranko. Drei Jahre später zieht Kylián nach Den Haag, um das NDT zu leiten. Er ist noch keine 30 Jahre alt, als er diesen Blitzstart hinlegt. Bald leistet er Pionierarbeit, erweitert die Mutterkompanie um ein Nachwuchs- und ein Seniorenensemble. Er sucht und findet eine eigene, surreale Bewegungsästhetik, die den Körper in Fantasien verstrickt - berauschende Wachträume: Der Tanz geht so organisch in den Bildern auf, als wäre er der einzige Schlüssel zu Ich und Welt.

Wo Forsythe die Abstraktion forciert und Neumeier zum Ballettromancier reift, glänzt Kylián mit Menschen- und Menschheitsbeschreibungen zwischen Melancholie und Verzückung. Signaturstücke wie "No more play" (1988), "Bella Figura" (1995) oder "Gods And Dogs" (2008) finden Eingang ins Repertoire anderer Häuser, auch des Bayerischen Staatsballetts. 2009 schickt Kylián die Münchner Tänzer als "Zugvögel" durchs Nationaltheater - eine der wenigen Uraufführungen, die er sich nach der Jahrtausendwende noch zumutet. Heute wird er 70 Jahre alt.

© SZ vom 21.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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