Ballett brutal:Schneewittchen, so jung und schon so alt

Bettina Thiel war ein Star am Berliner Staatsballet: ausdrucksstark, glamourös, eine Tänzerin mit persönlicher Note und vielen Fans. Doch als sie 40 Jahre alt wurde, streikte ihr Körper. Vom harten Ende einer Profi-Karriere bei Tänzern - und der Hoffnung auf einen Neuanfang.

Thomas Hahn

Erst kam der Unfall. Mittelfußbruch beim Tanzen, ein halbes Jahr Pause. Als Bettina Thiel, Erste Solotänzerin am Staatsballett Berlin, vormals an der Berliner Staatsoper Unter den Linden, wieder fit war, merkte sie, dass etwas anders geworden war. "Nach dem Unfall habe ich einfach die Rollen nicht mehr bekommen."

Fotoprobe zur Spielzeiteroeffnung des Staatsballetts Berlin

Bettina Thiel und Wieslaw Dudek vom Staatsballett Berlin: Wenn Tänzer aufgehört haben, Tänzer zu sein, sind sie im Grunde zunächst gar nichts mehr.

(Foto: ddp)

Sie lächelt, wie man mit dem Abstand der Jahre über etwas lächelt, das einmal weh getan hat. Es ist nicht leicht für Bettina Thiel, davon zu erzählen, wie das Ende ihrer Karriere als Profitänzerin begann. Sie will niemandem zu nahe treten. Das Haus konnte doch nicht einfach aufhören zu spielen, bloß weil sie nicht da war. Und die biologische Uhr kann auch keiner anhalten. Niemand meinte es schlecht mit ihr damals. Im Gegenteil, es gab Gespräche. "Betti, wo soll es hingehen? Was machst du nach der Tanz-Karriere?" Aber die Fürsorge bedeutete auch: Betti, es geht zu Ende. Es war zwiespältig, irgendwie in Ordnung, aber irgendwie auch unerbittlich. "Ja, es war knallhart", sagt Bettina Thiel, 48, und lacht.

Die Ballettszene hat ein eigenes Wort für die Phase, in der Tänzer und Tänzerinnen vom Leben im Rampenlicht allmählich in den bürgerlichen Alltag hinüberwechseln: Transition. Übergang. Es ist eine sensible Phase, denn wenn Tänzer zu alt für die anspruchsvollen Schrittfolgen des klassischen Balletts sind, wenn der Verschleiß einsetzt und Sehnen und Bänder die extremen Bewegungen nicht mehr mitmachen, dann sind sie in Wirklichkeit noch gar nicht alt. Nämlich meistens erst um die 40. In dem Alter hat noch keiner genug in die Rentenkasse gezahlt für einen unbeschwerten Ruhestand.

Viele Fußballprofis umgehen das Problem, indem sie während ihrer Karriere so viel verdienen, dass sie ausreichend Vorsorge treffen können. Und im olympischen Hochleistungssport organisieren Verbände und Staat sogenannte duale Karrieren - die Spitzenathleten können Training und Ausbildung etwa bei der Bundeswehr oder der Polizei verbinden. Aber die mit Zuschüssen finanzierte Hochleistungskunstform Ballett gibt so etwas nicht her. Die wenigsten der 1600 Tänzer an deutschen Staats- und Stadt-Balletthäusern werden gut genug bezahlt für einen entspannten Lebensvorabend; ein Gruppentänzer verdient nach Tarif zwischen 2800 und 3300 Euro brutto im Monat. Eine Ausbildung neben der Tanzkarriere lässt der dichte Proben-, Bühnen- und Tournee-Betrieb nicht zu. Und die vielen Jahre am Theater waren lange Zeit nur bedingt Hilfe bei der Jobsuche auf dem Arbeitsamt. "Tänzer gelten da als ungelernt", sagt Christiane Theobald, stellvertretende Intendantin am Berliner Staatsballett. Das ist hart, gerade für jemanden wie Bettina Thiel. Die trat ihre Ausbildung in den siebziger Jahren an der Staatlichen Ballettschule der DDR in Ostberlin an. Mit zehn.

Es können nicht alle Ballettmeister werden

Wenn Tänzer aufgehört haben, Tänzer zu sein, sind sie im Grunde zunächst gar nichts mehr. Da ist es kein Wunder, dass man die Frage nach dem Danach im hiesigen Tanzbetrieb lange verdrängt hat, sogar "tabuisiert", wie Christiane Theobald sagt. Erst allmählich wächst ein Verantwortungsbewusstsein. Gerade diese Unterhaltungen, die Bettina Thiel als so zwiespältig empfunden hat, diese besorgten, strengen Hinweise darauf, dass es Zeit wird, über den nächsten Lebensabschnitt nachzudenken, sieht Theobald als Pflicht: "Man muss das rechtzeitig besprechen." Seit kurzem gibt es die "Stiftung Tanz - Transition Zentrum Deutschland", initiiert vom Dachverband Tanz und von der Ballett- und Theaterdirektoren-Konferenz, um ältere Tänzer zu beraten. Aber viel mehr als private Initiativen gibt es noch nicht. "So eine materielle Hilfe haben die Tänzer noch nicht erfahren, zumindest nicht flächendeckend und von der Gesellschaft getragen", sagt Georg Vierthaler, geschäftsführender Direktor des Staatsballetts Berlin. Und so müssen sich viele erst mühsam in ein neues Leben kämpfen, das meist wenig mit Spitzenschuhen, Schwanenseen und Bühnenluft zu tun hat. Es können schließlich nicht alle Ballettmeister werden oder eine Tanzschule aufmachen. 15 bis 20 ehemalige Tänzer, sagt Georg Vierthaler, habe sein Haus in den vergangenen Jahren von der Compagnie umverteilt auf Posten hinter der Bühne. In die Produktionsleitung, ins Call Center, in die Kostümabteilung. Gefeierte Solisten von gestern verrichten heute Zuarbeiterdienste, das Klischee vom hofierten Bühnenstar zerschellt hier an der nüchternen Wirklichkeit. Bettina Thiel kennt Kollegen, die heute als Krankenschwestern arbeiten oder als Straßenbahnfahrer.

Bettina Thiel ist eine zierliche Frau in Hosen, leise, aber nicht gesetzt, und ihr schmales Gesicht trägt eine derart klare Blässe, dass man darin auf seltsame Weise Alter und Jugend zugleich erkennt. Bettina Thiel war in Berlin ein Star. Ausdrucksstark, glamourös, eine Tänzerin mit persönlicher Note und vielen Fans. Aber die Endlichkeit ihrer Karriere war ihr früh bewusst, mit Anfang zwanzig. "Es hat mich teilweise richtig belastet: Hoffentlich finde ich etwas, das mich so erfüllt wie der Tanz." Sie sah ältere Kollegen, die es nicht aushielten, so jung schon alt zu sein, abschreckende Beispiele. "Opfer sozusagen, die einfach nicht loslassen konnten vom Tanz, festgehalten haben und auch daran eingegangen sind."

Sie hatte Ideen, als es ernst wurde. Machte ein Praktikum als Theatermalerin. Dachte an Kunsttherapie. Und dann: Ausbildung zur Yoga-Trainerin, Ausbildung zur Lehrerin im kreativen Kindertanz, Ausbildung zur Tanztherapeutin. Im Frühjahr ist sie damit fertig. Sie unterrichtet am Bildungsprojekt "Tanz ist Klasse" des Staatsballetts. Sie ist beim Tanz geblieben, "Gott sei Dank".

Als junge Tänzerin war Bettina Thiel manchmal traurig, wenn sie nicht auch am Sonntag tanzen konnte. Da hat sie auch mal kleinere Verletzungen überspielt oder aus Überehrgeiz mit Fieber getanzt, so tief drin steckte sie in ihrer Ballett-Leidenschaft. Jetzt sieht sie die Chance, die mit der Veränderung verbunden ist. Die klassischen Rollen waren immer so eingefahren, die Schrittfolgen festgelegt, es war, als würde sie ständig fremde Spuren nachtanzen. Das ist jetzt vorbei, abgesehen von der kleinen Rolle, die sie noch am Staatsballett spielt, die Mutter in Schneewittchen.

Sie hat die Improvisation für sich entdeckt. Da kann sie ihren eigenen Spuren folgen und ihren Körper an den technischen Herausforderungen vorbeiführen, für die sie vielleicht wirklich jünger sein müsste. "Der Ballast ist weg", sagt Thiel, der Druck, perfekt zu sein. "Tanzen ist mein Hobby geworden, noch mehr als vorher." Wenn sie heute ihre alte Compagnie sieht mit ihren Pirouetten-Wirbeln und kräftezehrenden Klassiker-Repertoires, ist sie einfach nur Zuschauerin. "Ach. Schön. Aber gut, dass ich das nicht mehr machen muss." Bettina Thiel mag ihr neues Leben.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: