Balkan-Route 1915:In den Fängen eines Raubvogels

Der spanische Reporter Gaziel fuhr 1915 nach Kriegsausbruch nach Saloniki und Serbien. Seine Berichte von dort sind eine Entdeckung: "Ein Zuviel an Ideologie und ein Zuwenig an Brüderlichkeit . . ."

Von Christiane Schlötzer

Gedruckt, gelesen, weggeworfen oder weggewischt. Journalistische Produkte haben heute meist kurze Halbwertszeiten. Allenfalls, wer ein Restmisstrauen gegen das Digitale hegt, archiviert noch auf Papier. Fällt einem da ein Reportertext in die Hände, der schon hundert Jahre alt ist, und den man gar nicht mehr weglegen möchte, wirkt das wie ein kleines Wunder. Zumal, wenn sich die Geschichten lesen, als hätten sie auch mit der Gegenwart zu tun. "Keiner dachte an den Balkan", notierte Agustí Calvet am 12. Oktober 1915, und schon dieser erste Satz des Katalanen, der sich Gaziel nannte, hätte ein Ausrufezeichen verdient. Weil er einen ganzen Kosmos öffnet.

Gaziel war ein 28-jähriger europäischer Dandy, der es sich in Paris gutgehen ließ, bis ihn der Krieg überraschte. Während andere Kosmopoliten zurück in ihre Heimatländer strebten, blieb der Spanier und notierte, was er sah. Sein "Tagebuch eines Studenten in Paris" brachte ihm frühen Ruhm, und den Auftrag der in Barcelona erscheinenden Zeitung La Vanguardia, nach Saloniki und Serbien zu reisen. Europa starrte noch auf das Geschehen in Frankreich, und Kriegsberichterstatter schrieben gern aus der Perspektive von Generalstäben. Gaziel aber machte sich nach dem Kriegseintritt Bulgariens auf den Weg nach Süden.

"Bauern, die aus ihrer Heimat gefegt wurden wie menschlicher Abfall", sieht Gaziel in Serbien

Eines der wenigen Schiffe, das überhaupt noch die Passage übers Mittelmeer nach Griechenland wagte, war die Adriatikos. Als der alte Dampfer in Neapel ausläuft, befindet sich Gaziel an Bord, unter 200 Verängstigten, Seekranken und um Gnade flehenden Griechinnen. Zwischen den Kykladen und den Inseln Hydra und Ägina vor Athen (heute Traumziele von Ägäis-Touristen) lauern deutsche U-Boote mit tödlichen Torpedos.

Griechischer Transportdampfer in Thessaloniki, 1915

"Bald schon wird keine Spur mehr vorhanden sein von diesem Tumult", schreibt der Reporter Gaziel. Ein griechischer Transportdampfer schifft im Hafen von Thessaloniki alliierte Truppen aus.

(Foto: Scherl/SZ Photo)

Als gebildeter Bourgeois, der seinen Byron kennt, träumt Gaziel von der "Klarheit der Landschaften Griechenlands" und fühlt sich über den "Orientalismus" der gewöhnlichen Griechen erhaben. Die Reise aber macht aus dem Hellas-Schwärmer rasch einen engagierten Reporter und Kriegsgegner. In Patras geht er an Land und lässt sich von seiner Neugier treiben, das Alltägliche lockt ihn. So hält er fest: Der Osten scheine sich dadurch auszuzeichnen, "dass er die Frauen wegsperrt. Wo Straßen nur von Männern bevölkert sind, entsteht eine unheimliche Atmosphäre rauer Männlichkeit, in der man ständig befürchten muss, dass ein nichtiger Vorfall in ein Gemetzel ausartet."

Mobilmachung, griechische Machtintrigen, der Autor ist bald mittendrin. In Athen staunt er über die "maßlose Leidenschaft für politische Diskussionen", interviewt die wichtigsten Akteure, auch den gerade entmachteten Eleftherios Venizelos, der später mit seiner Megali Idea in Kleinasien einen weiteren Krieg befeuern wird, der für die Griechen im Desaster endet. Gaziel wundert sich über Venizelos' Tunnelblick und sieht die Katastrophe damit schon voraus. Eindringlich und berührend aber sind Gaziels Texte vor allem, weil er eben das Gewöhnliche wichtig nimmt. Das macht ihn zum Chronisten einer Welt vor dem Untergang, etwa wenn er sich in Saloniki für die sephardisch-jüdische Gemeinde interessiert, die Nachkommen der 1492 aus Spanien vertriebenen Juden. In der zweitgrößten Stadt Griechenlands bilden die Juden damals 70 Prozent der Bevölkerung. 30 Jahre später wird diese große Gemeinschaft unter deutscher Besatzung fast völlig vernichtet. Die 56 000 Juden, die sich 1943 noch in Thessaloniki befinden, werden nach Auschwitz deportiert, nur wenige überleben.

Gaziel ist wie viele seiner Zeitgenossen selbst nicht frei von antisemitischen Anwandlungen, das ändert aber nichts daran, dass es ihn zu einer Tertulia hinzieht, einem geselligen Gespräch unter sephardischen Händlern. Die erzählen ihm in ihrem alten Spanisch, dass sie sich zurücksehnen nach der Herrschaft der Osmanen, die ihnen mehr Freiheiten geboten hatte als die griechische. Man kann dieses Kapitel der "Sephardischen Plaudereien" nicht ohne Erschaudern lesen, weil es geradezu prophetisch ist, wenn einer der Händler sagt: "Und wir mehr als Unschuldigen werden untergehen, zerrissen, wie Amseln in den Fängen eines gierigen Raubvogels!"

Balkan-Route 1915: Gaziel wurde 1887 als Agustí Calvet Pascual (Foto: Verlag) in Sant Feliu de Guíxols geboren. Bei Kriegsausbruch war er in Paris. "Von jetzt an spielt die Musik im Osten", hieß es damals.

Gaziel wurde 1887 als Agustí Calvet Pascual (Foto: Verlag) in Sant Feliu de Guíxols geboren. Bei Kriegsausbruch war er in Paris. "Von jetzt an spielt die Musik im Osten", hieß es damals.

Von Saloniki aus wagt Gaziel sich nach Serbien, nun wirklich hinein in den Krieg. Unterwegs begegnen ihm immer mehr Flüchtlinge, Serben, die zuvor ihre Berge nie verlassen haben. Sie haben vergeblich auf die anglo-französischen "Befreier" gewartet. "Nichts, was ich bislang in diesem Krieg erlebt habe, hat mich so sehr erschüttert, wie diese Schar von halbnackten, in Lumpen gekleideten Bauern, die aus ihrer Heimat gefegt wurden wie menschlicher Abfall." Bei Gaziels Schilderungen der Balkanroute kann man die Gegenwart kaum ausblenden. "Ein Zuviel an Ideologie und ein Zuwenig an Brüderlichkeit", heißt es in diesem alten Text, verleite dazu, "die Erde als parzellierte Landkarte zu betrachten und in jedes Feld stolze oder einfach nur wohlklingende Namensschilder zu stecken: Deutschland, Frankreich, England, Serbien, Bulgarien, Russland, Türkei." Auf dem Rückweg sinniert Gaziel, von allem, was er erlebt habe, werde nichts bleiben, es werde "in den Tiefen der Zeit versinken".

Gaziel blieb bis 1936, dem Beginn des Spanischen Bürgerkriegs, Journalist, war Chefredakteur von Vanguardia, musste dann emigrieren, kehrte 1941 zurück und erhielt unter Franco Berufsverbot. 1964 starb er. Auch in Spanien wurde er erst in jüngster Zeit wiederentdeckt, jetzt kann man das endlich auch auf Deutsch tun.

Gaziel: Nach Saloniki und Serbien. Eine Reise in den Ersten Weltkrieg. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Berenberg Verlag, Berlin 2016. 272 Seiten, 25 Euro.

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