Autorenfilm:Sehen lernen

Naomi Kawases "Radiance" ist ein zauberhafter Film über die Kraft der Imagination, den Verlust des Augenlichts und die Schönheit im letzten Leuchten der Abendsonne.

Von Rainer Gansera

"Ich lerne sehen ... es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war", notierte Rilke in den "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge". Auch wenn unsere Augen physiologisch gut funktionieren, heißt das noch nicht, dass wir sehen können. Sehen will gelernt sein.

Davon erzählt die japanische Regisseurin Naomi Kawase in "Radiance", ihrer zauberhaften Meditation über die Macht der Bilder, die Schönheit der Welt und die Kunst, mit Schicksalsschlägen umzugehen. Mit Zartheit und Eleganz entfaltet sie ihr Bilderpanorama, in dem man sich vom ersten Augenblick an gut aufgehoben fühlt, getragen von der besonderen Aufmerksamkeit, die sie den Dingen schenkt.

Kawase will nicht überwältigen oder dramatisch gängeln, sondern das Sehen herausfordern, und erzählt von einer jungen Frau namens Misako (Ayame Misaki), deren Beruf es ist, Hörbeschreibungen von Kinofilmen für Blinde und Sehbehinderte zu verfassen. Worte finden für das, was man sieht. Misako übt sich darin in alltäglichen Situationen und notiert: "Der Bahnhof, eine Bushaltestelle, eine Gruppe Schulkinder überquert den Zebrastreifen, ein ungeduldiger Autofahrer hupt."

Ist diese Beschreibung zu nüchtern? Müssten nicht auch für Stimmung, Atmosphäre und Gefühle die treffenden Worte gefunden werden? Sie bearbeitet gerade einen ambitionierten Spielfilm, der die prekäre Liebesgeschichte eines alternden Mannes erzählt, und präsentiert einer Testgruppe blinder Menschen ihren ersten Textentwurf. Um jedes Wort, jede Wortnuance wird da gerungen, und Misakos Dilemma wird offenbar. Einerseits soll sie nicht zu knapp beschreiben, andererseits aber der Imagination noch Raum lassen.

Radiance

Die Dinge erstrahlen beim Verschwinden – Szene aus „Radiance“.

(Foto: Concorde)

Alle Vorschläge aus der Gruppe werden mit Witz und Charme vorgetragen, bis ein Mann schroff dazwischenfährt: "Ehrlich gesagt, so wie der Text jetzt ist, geht er einem nur auf die Nerven!" Misako, tief gekränkt, entgegnet ihm: Das einzige Problem sei, dass er nicht über hinreichend Imagination verfüge, um sich aus ihren Worten den inneren Film zu erschaffen. Das Duell ist eröffnet.

Der Mann, Nakamori (Nagase Masatoshi), ist ein berühmter Fotograf. Er leidet an einer degenerativen Erkrankung, die ihm unaufhaltsam das Augenlicht nimmt. Er hadert mit dem Schicksal, vergräbt sich, und Misako wird ihn nur Schritt für Schritt aus seiner Verbitterung hervorlocken können. Sie selbst muss Erfahrungen von Verlust und Trauer verarbeiten, doch für sie gilt: Im Schmerz darf man nicht verharren, irgendwann muss das Schicksal angenommen werden. Verwundert beobachtet sie, wie er versucht, Kinder beim Spielen zu fotografieren, obwohl er deren Gestalten nurmehr fragmentarisch wahrnehmen kann.

In dieser Szene geht die Kamera besonders nahe an die Gesichter von Misako und Nakamori heran, damit wir dafür aufmerksam werden, wie verschieden das Sehen sein kann: Ansehen, Zusehen, Schauen, Betrachten. Einmal besucht sie ihn in seinem Appartement und gibt ihm eine Beschreibung der Situation in der Art ihrer Audiodeskriptionen: "Das Zimmer wird von den Strahlen der untergehenden Sonne erhellt. Das finde ich sehr schön. Ein Prisma fächert die Strahlen auf in die Regenbogenfarben. Misako streckt die Hand aus, um das Licht zu erhaschen!"

Der Mann, der das Augenlicht verliert, und die Frau, die nach dem Licht greift. Naomi Kawase erzählt nicht symbolisch und bedeutungsschwer, sondern bleibt ihrem Stil der sensuellen Schilderung immer treu, sie erdet die Gesten. Es ist kein Zufall, dass Misako das Licht der untergehenden Sonne "sehr schön" findet. Die untergehende Sonne ist für sie ein existenzielles Hoffnungszeichen. Am Strand, wenn ihr der Sand durch die Finger rinnt, sagt sie: "Nichts ist schöner als das, was vor unseren Augen verschwindet!" Das ist nicht nur Misakos Maxime, es ist auch das Credo des Films, die Leitlinie seiner Ästhetik und Philosophie.

Uns ist geläufiger, die Schönheit der Welt in ihrem Aufgang zu sehen. So hat es Philipp Otto Runge in seinem Gemälde "Der kleine Morgen" dargestellt, so beschreibt Wim Wenders: Das Augenaufschlagen ist wie die Erschaffung der Welt. Hier aber erstrahlt die Schönheit der Dinge bei deren Verschwinden: im Davonflug eines Vogels, im Vorüberziehen einer Wolke. Die Vergänglichkeit der Dinge ist kein Dementi ihrer Schönheit, sie ist deren Apotheose. Naomi Kawase behauptet das nicht einfach, sondern macht es in ihrer kontemplativen, traumnahen Erzählweise erfahrbar. Sie lässt uns die Welt mit neuen Augen sehen.

Hikari, Japan/Frankreich 2017 - Buch und Regie: Naomi Kawase. Kamera: Arata Dode. Mit: Ayame Misaki, Masatoshi Nagase, Tatsuya Fuji. Verleih: Concorde, 101 Minuten.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: