Autoren gegen Überwachung im Netz:"Kaufkraftzombies des Kapitals"

"Ich habe nichts zu verbergen": Mit diesem Satz begründen viele User ihr Desinteresse am NSA-Skandal. 562 Autoren aus aller Welt, darunter Günter Grass und Umberto Eco, wollen die Gleichgültigkeit beenden und sie als folgenreichen Irrtum brandmarken - mit einem internationalen Aufruf zum Protest. Niemand dürfe sich zum "gläsernen Idioten" machen lassen.

Von Ruth Schneeberger

"Geheimdienste tun eben, was Geheimdienste tun", "So interessant ist Dein Leben auch wieder nicht, dass sich ein Weltkonzern wie Google ernsthaft dafür interessieren würde", "Wie soll man denn sonst den Terror bekämpfen?" oder "Ich habe nichts zu verbergen" - so und ähnlich lauten viele Aussagen zum Thema NSA-Affäre und Massenüberwachung im Netz. Sie beruhigen, sie beschwichtigen, sie stellen infrage, ob es sich überhaupt um einen Skandal handele, was Edward Snowden in diesem Jahr der Öffentlichkeit zu verkünden hatte.

562 Schriftsteller und Autoren aus aller Welt möchten diese Sicht der Dinge jetzt gerade rücken. Mit einem "Aufruf der Schriftsteller gegen Überwachung" ("Writers Against Mass Surveillance") wollen sie die Öffentlichkeit wachrütteln. Darunter sind Nobelpreisträger wie Günter Grass, Elfriede Jelinek, Orhan Pamuk und J.M. Coetzee sowie weitere prominente Schriftsteller wie Umberto Eco, Margaret Atwood, T.C. Boyle, Daniel Kehlmann, Henning Mankell oder Liao Yiwu.

Initiiert von sieben deutschen Autoren, darunter Juli Zeh und Ilija Trojanow, haben sich weltweit Kollegen aus vor allem USA und Europa angeschlossen. Aber auch aus Afrika, Asien, Russland und vereinzelt aus arabischen Ländern stehen Unterzeichner mit ihren Namen gerade für die Initiative, hinter der vor allem eines steckt: der Aufruf, für die Freiheit des Einzelnen zu kämpfen, gegen die Überwachung im Netz.

"Die Konfliktlinie ist völlig klar: Bürger gegen Institutionen", erklärt Schriftstellerin Juli Zeh im Interview mit der FAZ, die als eine von 31 Zeitungen an diesem Dienstag den Aufruf abdruckte. "Und nicht nur Bürger gegen Staat, es geht auch um Konzerne. Es geht um den Konflikt zwischen dem Einzelnen und der absoluten Macht unter den neuen Bedingungen des Informationszeitalters. Alles andere - links, rechts, deutsch, amerikanisch - spielt keine Rolle."

"Die Betonschädel in den Regierungen erreichen"

Auch der Münchner Autor Friedrich Ani hat den Aufruf unterschrieben. Auf SZ.de-Nachfrage, warum, antwortet er: "So einen Aufruf nicht zu unterschreiben, wäre vollkommen undemokratisch. Dass wir überhaupt in einer Zeit leben, in der wir so einen Aufruf brauchen, ist ja schon beschämend."

Indem sich "weltweit, auch in arabischen Ländern, mutige Autoren und Journalisten bekannt haben zu dem Aufruf, dass ein überwachter Mensch kein freier Mensch mehr sein kann, soll vor allem die Bevölkerung zum Nachdenken angeregt werden", so Ani. "Damit das irgendwann auch die Betonschädel in den jeweiligen Regierungen erreicht."

Trotzdem glaubt Ani, der mit Kriminalromanen Berühmtheit erlangte, nicht an einen unmittelbar spürbaren Erfolg der Aktion: "Politiker bestimmter Länder gehen jetzt erst mal in den Keller und lachen sich einen Ast ab über diese Schreiberlinge, die denken, etwas bewirken zu können." Die Politik wisse, wie schnell die Öffentlichkeit vergesse, doch diese dürfe sich nicht blenden lassen. Deshalb richte sich die Aktion vor allem an die Bürger, "an jeden einzelnen weltweit. Damit ein paar Gedanken zum Blühen kommen, die Leute den Mund aufmachen, eventuell auf die Straße gehen, was auch immer - damit man zeigt, dass man ein Individuum bleiben und nicht zum gläsernen Idioten werden will".

Der Ton auch der anderen Autoren reicht von Wut über Fassungslosigkeit bis zu Fatalismus. Die Sachverhalte werden nicht neu verhandelt - aber sie werden, einmal durch den Schriftstellerkopf gedreht, prägnanter denn je beschrieben:

"Während wir schliefen, haben die Maschinen die Welt übernommen"

So schreibt etwa Kurt Drawert in der FAZ, die neu entdeckte Überwachungsmaschinerie stelle alles in den Schatten, "was an Totalkontrolle und Züchtigung der Subjekte je denkbar gewesen ist". Es falle ihm schwer, von einem Skandal zu sprechen, denn das setze "die Naivität voraus, nicht erwartet zu haben, dass das Mögliche in der Regel auch geschieht."

Das Internet als Medium der demokratischen Partizipation anzunehmen, sei "illusionär" gewesen. "Spätestens jetzt sollten wir auch die Phantasmen der Literatur ernster nehmen, wie sie seit Kafka unsere moderne Welt begleiten", so Drawert. "Die Vorstellung, dass von unserer (Rest-) Innerlichkeit digitale Kopien erstellt werden, die uns komplett substituieren und zu entleerten Kaufkraftzombies des Kapitals werden lassen, ist noch in keinem Roman erschöpfend beschrieben. Die Zukunft also hat bereits stattgefunden und passt in einen Werbekatalog. Wer sich dagegen nicht wehrt, wehrt sich nie", so der Autor.

"Perfider als der Kommunismus"

Antje Rávic Strubel schreibt: "Das kapitalistische System, das so gern mit der Freiheit des Individuums in Verbindung gebracht wird, zeigt sich heute perfider als der Kommunismus in seinen Methoden, diese Freiheit zu beschneiden." Und doch, so Strubel, "erhebt sich schon wieder der Chor der Mitläufer, die sich interessanterweise mit demselben Argument unterwerfen, das die Stasi-Offiziere benutzten, um das Volk gefügig zu machen: 'Wer nichts zu verbergen hat, braucht nichts zu befürchten.' Ich aber fürchte mich. Denn diesmal sind die Mittel von todsicherer Effizienz."

Zurückhaltender äußert sich Viktor Jerofejew: "Als öffentliche Figur sollte ein Schriftsteller auf Überwachung vorbereitet sein. Denn sie kündet von der Qualität seiner schriftstellerischen Unabhängigkeit. Ein Schriftsteller darf kein Freund des Staates sein. Aber der Schriftsteller ist eine Sache, die andere ist der Normalbürger. Als Bürger hasse ich die bloße Vorstellung staatlicher Überwachung und finde, das wir den Staat überwachen sollten, weil von ihm alle möglichen Gemeinheiten zu erwarten sind, und nicht umgekehrt."

Trotzdem verstehe er "die fast hysterische Sorge Amerikas und anderer westlicher Staaten angesichts der Unvorhersehbarkeit von Terrorakten." Aber "wie kann man kontrollieren, wo für diese Staaten die Terrorbedrohung nur ein Vorwand ist und wo sie wirklich unsere Zivilisation schützen wollen?" Darauf, so der Schriftsteller, gebe es keine Antwort.

"Ich leide nicht unter Verfolgungswahn"

T. C. Boyle schreibt: "Während wir schliefen, haben die Maschinen die Welt übernommen, genau wie es die alten Science-Fiction-Filme voraussagten. Regierungen bauen und betreiben die Maschinen, und die Maschinen sammeln Daten, die immer missbraucht werden. Man kann nicht in die Öffentlichkeit gehen, ohne gefilmt zu werden, kann keine Website besuchen, ohne verfolgt zu werden, kann nicht zum Abendessen in ein Restaurant gehen, ohne dass der Aufenthalt dort markiert wird. Es gibt kein Rückzugsgebiet mehr. Und es gibt kaum etwas, das wir dagegen tun können, außer auszusteigen."

"Ich habe keine E-Mail-Adresse", berichtet Javier Marías, "weil ich nicht will, dass jemand in meine Korrespondenz eindringt, vor allem nicht die Polizei oder die Regierung. Nicht dass ich (allgemein) etwas zu verbergen hätte. Nicht dass ich fürchtete, dass meine Handlungen oder Bewegungen für irgendwen von Interesse wären, ich leide nicht unter Verfolgungswahn. Es ist ausschließlich eine Frage des Prinzips. Individuelle Freiheit kann es nicht geben, wenn man ausspioniert werden kann, wann immer die Behörden sich dafür entscheiden und zurückverfolgen können, was man gesagt oder geschrieben hat."

Die Kanzlerin hat nicht reagiert

Was sie sagen und was sie schreiben, das ist für Schriftsteller und Autoren per se ein so wichtiges Gut, dass sie es verteidigen müssen, wollen sie sich selbst und ihren Job ernst nehmen. Das geschriebene Wort, ob im Netz oder im Buch, ist für diese Berufsgruppe von Berufenen existenziell. Deshalb ist die Aktion breiter angelegt als die Proteste, die jüngst von Internetfirmen veröffentlicht wurden.

Juli Zeh berichtet in dem Interview: "Wir wollten den Aufruf und die Unterschriften ja an einem einzigen Tag veröffentlichen, deswegen mussten wir das im Verborgenen vorbereiten. Es war gar nicht möglich, auf flächendeckende Netzwerke zuzugreifen - die Gefahr eines Lecks war einfach zu groß. Wir haben erst befreundete Autoren gefragt und die gebeten, weitere Freunde zu fragen. Wir sind auch auf deutsche Verlage zugegangen, die internationale Autoren im Haus haben, darüber kamen Agenturen ins Spiel. Auch Übersetzer haben sehr geholfen. Und so kam der Schneeball ins Rollen."

Es braucht Zeit

Absagen habe es nur wenige gegeben - unter anderem mit dem Tenor, dass es Privatheit im 21. Jahrhundert nicht mehr gebe und es nichts bringe, sich dagegen zu wehren.

Nachdem ein offener Brief an Kanzlerin Angela Merkel im Juli unbeantwortet blieb, fordern die Autoren nun alle Bürger zur Unterschrift auf - um die Demokratie im digitalen Zeitalter zu verteidigen.

Ilija Trojanow, der zuletzt an der Einreise in die USA gehindert wurde, erklärt: "Es ist wie bei allen technologischen Entwicklungen: Wenn man nicht vom Fach ist, braucht es Zeit, bis man begreift, was passiert, und die schädlichen Folgen erkennt. Es ist selbstverständlich, dass wir jene Freiheitsrechte, die wir in einem jahrhundertelangen Kampf in einer analogen Welt erfochten haben, jetzt auf die digitale Welt übertragen. Das ist eigentlich banal. Die spannende Frage ist, warum das nicht generell akzeptiert und umgesetzt wird."

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