Autor Urs Widmer ist tot:Kein Leben als Zwerg

Urs Widmer gestorben

Der Autor Urs Widmer im Jahr 2007 in Frankfurt

(Foto: dpa)

"Literatur im fantastischen Konjunktiv": Urs Widmer war einer der bekanntesten Schriftsteller der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Das intellektuelle Leben in der Schweiz prägte er maßgeblich. Nun ist er im Alter von 75 Jahren in Zürich gestorben.

Der Schweizer Schriftsteller, Dramatiker und Hörspielautor Urs Widmer ist tot. Wie der Zürcher Diogenes Verlag, bei dem fast alle seiner Bücher erscheinen, mitteilte, starb er am Mittwoch nach schwerer Krankheit im Alter von 75 Jahren in Zürich.

Widmer galt als einer der vielseitigsten und erfolgreichsten Schweizer Schriftsteller der Generation nach Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch und war über die Grenzen seines Heimatlandes hinaus bekannt. Zu seinen populärsten Büchern zählen die autobiografisch gefärbte Trilogie "Der Geliebte der Mutter", "Das Buch des Vaters" und "Ein Leben als Zwerg", mit der ihm der Durchbruch gelang. Darin verknüpfte Widmer individuelle Schicksale mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Widmer wurde am 21. Mai 1938 in Basel geboren. Durch seinen Vater Walter, einen angesehenen Literaturkritiker und Übersetzer, der mit Heinrich Böll befreundet war, kam er bereits im Elternhaus in engen Kontakt mit der Literatur. 1966 promovierte er mit einer Arbeit über die deutsche Nachkriegsprosa. Danach arbeitete er zunächst als Verlagslektor, dann als Schriftsteller, Literaturkritiker und Dozent in Frankfurt am Main. Zusammen mit anderen Lektoren des Suhrkamp Verlags gründete er 1968 den Verlag der Autoren.

"Ich versuche, mir beim Fühlen und Denken zuzusehen"

Widmers Erstling war 1968 die Erzählung "Alois". In der Deutschen Zeitung schrieb Dieter Bachmann dazu, Widmer sei "Meister in der Anverwandlung vorgefundener Stoffe, in der Verknüpfung von Strandgut, aus sehnsüchtigen Träumen, Kinder-, Buben- und Männerträumen, mit Bruchstücken aus unserer alltäglichen Wirklichkeit". Er schaffe eine "Literatur im fantastischen Konjunktiv, die das Kunststück fertigbringt, zum Höhenflug abzuheben, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren."

Bekannt wurde er auch mit den Büchern "Der blaue Siphon", "Im Kongo" und "Liebesnacht". Den Roman "Der Kongress der Paläolepidopterologen" (1989) nannte die Süddeutsche Zeitung "eine großartige Satire auf Militarismus, Kapitalismus, Wissenschaft und Religion. Ein bösartiges und bis in einzelne Bilder und Formulierungen hinein abgrundtief witziges Buch". Als "Essenz aus seinem literarischen Werk" bezeichnete die SZ 1998 Widmers Geschichtenband "Vor uns die Sintflut" mit 21 Geschichten und Parabeln, die in den Worten des Autors "Traumpfade durch unsere Kultur und Unkultur" sind.

Der große Publikumsdurchbruch gelang Widmer im Jahr 2000 mit dem Roman "Der Geliebte der Mutter". Im September 2013 erschien seine Autobiografie "Reise an den Rand des Universums". "Ich versuche, zu denken und zu fühlen, und ich versuche, mir beim Fühlen und Denken zuzusehen", erklärte Widmer 2008 im Tages-Anzeiger die Grundlage seines Schreibens.

Ironie, Satire und surreale Präzision

Widmers umfangreiches Werk umfasst nicht nur Romane. Um die drei Dutzend Erzählungen, Romane, Theaterstücke, Essays und andere Werke erschienen im Diogenes Verlag. Für sein Schaffen wurde Urs Widmer unter anderem 2007 mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Seinen Stil zeichne "der Wechsel der Töne aus: Ironie und Satire stehen neben surrealer und realistischer Präzision", urteilte die Jury damals. Zudem wurde er mit dem Schweizer Literaturpreis und dem Jakob-Wassermann-Literaturpreis der Stadt Fürth geehrt.

In seiner Frankfurter Poetikdozentur, die er in der 2007 herausgegebenen Sammlung "Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das" zusammenfasste, widmete sich Widmer wichtigen Vorbildern wie seinem Schweizer Landsmann Gottfried Keller, analysierte aber auch aktuelle Entwicklungen wie den Turbo-Kapitalismus und dessen Sprache von Krieg und Siegern. In Zeitungsveröffentlichungen hielt er außerdem kritische Rückschau auf das für ihn und seine Generation einschneidende Jahr 1968 und den Aufstand der Lektoren im Suhrkamp-Verlag, der zur Gründung des Verlags der Autoren führte.

Mit Widmer verliere Schweiz nicht nur einen großen Schriftsteller, schrieb die Neue Zürcher Zeitung nun in ihrer Online-Ausgabe: "Urs Widmer hat mit seiner heiteren Besonnenheit und seinem temperamentvollen Esprit das intellektuelle Leben hierzulande maßgeblich mitgeprägt und belebt."

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