Autobiographie:Ein verlorenes Leben

Hisham Matars drittes, mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnetes Buch "Die Rückkehr" folgt den Spuren des Vaters, der in den Folterkellern Gaddafis verschwand.

Von Stefan Weidner

Sich mit dem Verlust eines nahen Menschen abzufinden, wenn man nicht weiß, wann oder ob er überhaupt gestorben ist, führt in psychologische Grenzregionen. Könnte der Totgeglaubte nicht jederzeit wieder auftauchen und die gewohnte Stelle im Leben einzunehmen? Eine solche Erfahrung, in Kriegszeiten häufig, scheint selten geworden zu sein; den heute in London lebenden und auf Englisch schreibenden Libyer Hisham Matar, der so seinen Vater verlor, hat sie zum Autor gemacht. Nach zwei hochgelobten fiktionalen Darstellungen der Problematik, einmal aus der Perspektive eines Kindes, ist das mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete, dritte Buch über das Thema nun explizit autobiografisch.

Dank der arabischen Revolutionen und dem Sturz Gaddafis ist die titelgebende "Rückkehr" in die libysche Heimat, an die Schauplätze der Kindheit und in die großfamiliären Zusammenhänge möglich geworden - und die Suche nach dem Vater ist mehr geworden als ein bloßes Stochern im Dunkeln und ein verzweifeltes Appellieren an die Machthaber.

Das Buch ist ein spannender Schnellkurs in neuer libyscher Geschichte. Der Vater war nicht irgendwer, sondern zunächst Diplomat im Dienst des Königs Idris, nach Gaddafis Putsch 1969 ein erfolgreicher Geschäftsmann. Als es zu Spannungen zwischen ihm und dem Regime kam, gelang es ihm 1980, sich mit Geld und Familie nach Ägypten abzusetzen. Es hätte für die Familie das übliche gute Leben der ägyptischen Oberklasse sein können - und eine Zeit lang war es das auch. Aber der Vater mischte sich weiterhin in die Politik ein und baute gar eine Privatarmee zum Sturz des Regimes auf. Unterdessen wanderten viele der im Land gebliebenen Mitglieder des väterlichen Clans in die Verliese.

Autobiographie: Hisham Matar wuchs in Libyen, Ägypten und England auf, wo er heute lebt und auf Englisch schreibt.

Hisham Matar wuchs in Libyen, Ägypten und England auf, wo er heute lebt und auf Englisch schreibt.

(Foto: Tina Hillier/Luchterhand Literaturverlag)

Der Sohn geht auf eine Privatschule in England, muss eine falsche Identität annehmen, ohne zu begreifen, warum. Irgendwann fragen die Söhne, wie es denn mit dem Geld aussehe, ob sie sich darauf verlassen könnten, dass der Vater vorgesorgt habe. Er beruhigt die Familie, sie leben weiter auf großem Fuß. Wenige Monate später wird der Vater verhaftet und taucht nie wieder auf. Auf den Konten ist kaum noch Geld. Es ist das Jahr 1990. Die Familie glaubt drei Jahre, er sitze in einem ägyptischen Gefängnis. Da ist er schon lange an Gaddafi ausgeliefert worden.

Hisham Matar umkreist seinen Stoff in einer doppelten Bewegung, in der sich Gegenwart und Vergangenheit, Erinnerung und Erzählung von der Rückkehr im Jahr 2012 literarisch geschickt ineinander verweben. Gaddafi ist vertrieben, Hoffnungen und Befürchtungen für die neue Zeit halten sich die Waage. Die freigekommenen Verwandten erzählen von Folter, Gefängnissen, Hinrichtungen. 1996 verliert sich die Spur des Vaters nach einer Massenhinrichtung. Wäre er unter den Hingerichteten gewesen, hätte der Sohn es nicht spüren müssen? Matar lebte in jener Zeit in London in der Nähe der National Gallery. Nun sieht er im Tagebuch nach, was er an jenem Tag gemacht hatte. "Die Distanz hatte etwas Schwindelerregendes. Was mich erschaudern ließ, war die Tatsache, dass ich an dem Tag, an dem im Gefängnis meines Vaters 1270 Männer exekutiert wurden, mir ausgerechnet Édouard Manets "Erschießung des Kaiser Maximilians" das Bild einer politischen Hinrichtung, als neues Objekt für meine Wache aussuchte."

Mehrmals trifft er Gaddafis Sohn, um etwas über den Verbleib seines Vaters zu erfahren

Näher an das Verschwinden des Vaters wird Hisham Matar nicht herankommen. Dabei ist er sogar bereit gewesen, sich mit dem Teufel einzulassen. Mehrmals kam es zu bizarren, konspirativen Treffen mit Saif al-Islam, Gaddafis Sohn, in der Hoffnung, Informationen über den Vater zu erhalten. Blairs Normalisierungspolitik gegenüber Gaddafi, von Matar scharf kritisiert, hatte die Begegnung möglich gemacht. Und das libysche Regime wollte den Schriftsteller ruhigstellen, der mit seinen Artikeln und Unterschriftsaktionen den Honeymoon zwischen Gaddafi und dem Westen zu verderben drohte. Während der Sohn des Oppositionellen immer noch hoffte, dass der Vater lebt, verlegte sich der Sohn des Diktators auf eine Mischung aus Hinhaltetaktik, Erpressung und Bestechung.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch "Die Rückkehr - Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater" stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Gaddafi ist tot, Saif al-Islam in der Gewalt einer libyschen Miliz, aber Hisham Matar weiß bis heute nicht, was mit seinem Vater passiert ist. Die Zerstörung des Landes, so der Autor, hat Gaddafi selbst vorbereitet, als er die Parole ausrief: "Die wahre Demokratie liegt in der Herrschaft der Massen, und die Massen sind zu bewaffnen." Matar schließt: "Das Unheil, das auf den Fall Gaddafis folgte, ist weit mehr eine Folge seiner Diktatur als der Revolution." Dann ist freilich auch der jetzt von Libyen nach Europa zurückschwappende Terror mehr eine Folge der jahrzehntelangen, oft vom Westen geförderten Diktaturen als der verunglückten Revolutionen gegen sie.

Libysche Geschichte und die frustrierende Erfahrung der Väterrecherche erhellen sich in diesem Text wechselseitig, limitieren einander aber zugleich. Die obsessive Fixierung auf den Vater ist nicht nur verständlich, sondern zuweilen auch befremdlich. Man muss kein Psychologe sein, um zu erahnen, woran das liegt. Die ernüchternde Wahrheit lautet, dass der Vater die Liebe zur Familie und das Wohlergehen seiner Kinder dem politischen Kampf gegen Gaddafi geopfert hat. Doch heute gilt er in ganz Libyen als Märtyrer für eine gerechte Sache, und nicht zuletzt die alten Familienstrukturen würden eine unverhohlene Abrechnung mit dem Vater als schweren Tabubruch erscheinen lassen. Hisham Matars "Die Rückkehr" ist daher kein arabischer "Brief an den Vater". Die Wut und die Verzweiflung des Autors bleiben am Ende so unerlöst wie der verschollene Vater und das ganze libysche Volk.

Hisham Matar: Die Rückkehr. Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Luchterhand Verlag, München 2017. 287 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: