Autobiografie:Ein silberner Spiegel

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Hilary Mantel ist mit historischen Romanen bekannt geworden. In ihren Memoiren erzählt die englische Autorin nun, wie man sich einen zweiten Körper erschreibt.

Von Alexander Menden

Manchmal glaubt Hilary Mantel, sich "ins Leben hineinschreiben zu müssen": "Hast du genügend Wörter zu Papier gebracht, hast du das Gefühl, dein Rückgrat sei kräftig genug, um dem Wind zu widerstehen." Aber diese Methode der Selbstvergewisserung hat einen Haken: "Hörst du auf zu schreiben, stellst du fest, dass das alles ist, was du bist: Ein Rückgrat, eine Reihe klappernder Wirbel, ausgetrocknet wie ein alter Federkiel."

Natürlich ist Mantel nur dann wirklich bei sich, wenn sie schreibt. Zum einen ist es erkennbar ihre Berufung, sie hat gar keine Wahl, als sich schreibend darzulegen - sich "zu lokalisieren, wenn nicht in meinem Körper, dann im schmalen Zwischenraum zwischen einem Buchstaben und dem nächsten, zwischen den Zeilen, wo die Geister der Bedeutung leben". Ein Federkiel mag sie sein, aber ganz sicher kein trockener. Und zum anderen ermöglicht die Beschreibung der Welt und ihrer selbst Mantel, der ihr eigener Körper gleichsam den Krieg erklärt hat, eine schöpferische Kanalisierung physischen Leidens. Beide Aspekte sind bedeutsam für das Verständnis ihrer Memoiren, die nun, dreizehn Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung, auch auf Deutsch herausgekommen sind.

Ihr Selbstporträt ist ein Gespinst aus Andeutungen mit vielen Auslassungen

Mantel ist vor allem als Autorin von "Wölfe" und "Falken" berühmt geworden, den jeweils mit dem Booker-Preis ausgezeichneten historischen Romanen über den Tudor-Politiker Thomas Cromwell. Die sechsteilige BBC-Verfilmung der ersten Teile der unvollendeten Trilogie wurde unter dem Titel "Wolf Hall" im Januar und Februar im englischen Fernsehen ausgestrahlt und ist gerade in den USA angelaufen. Wer in Kenntnis dieser Werke "Von Geist und Geistern" liest, wird Vertrautes entdecken. Etwa den unsentimentalen Blick, den Pragmatismus, der nie zu Zynismus gerinnt, den trockenen bis grimmigen Humor, die genaue Milieuschilderung. Was man jedoch nicht erwarten sollte: dass die Autorin ihre eigene Existenz mit ähnlich distanzierter Klarheit präsentiert wie die ihrer machiavellistischen Figuren. "Von Geist und Geistern" ist ein Gespinst aus Andeutungen, die sich nicht zu einem konventionellen Selbstporträt fügen.

Hilary Thompson, (oder "Illary", wie ihre Familie in Derbyshire sie nennt), wird 1952 ins irischstämmige Arbeitermilieu des englischen Städtchens Hadfield geboren. Sie geht auf eine katholische Grundschule, wo sie einen beständigen, stillen Kampf gegen die Disziplinierung durch die Nonnen und die Dummheit der Mitschüler ausficht. Es ist eine Existenz des Unausgesprochenen, des Verdrängten. Umso spektakulärer ist das Drama, das sich im Kopf der kleinen Hilary abspielt. Bei einem Ausflug nach Blackpool schmettert die plötzliche Überzeugung sie nieder, dem Glück ihrer Eltern im Weg zu stehen: "Der Gedanke ist folgender: Dass mein Vater mich auf die Felsen schleudern wird, hinunter ins Meer. Dass er es vielleicht nicht tun wird, aber dass da ein Impuls in seinem Herzen ist, der sagt, er soll es tun. Denn was bin ich anderes als ein wegwerfbares, ersetzbares Kind? Und ohne mich hätten sie eine Chance im Leben."

Schreiben als Exorzismus: Hilary Mantel. (Foto: Andrew Testa/The New York Times)

Ihr Vater verschwindet, als sie elf Jahre als ist, aus ihrem Leben, und wird durch den "Hausfreund" und inoffiziellen Stiefvater Jack Mantel ersetzt, dessen Nachnamen sie annimmt. Hilary ist ein dünnes, in sich gekehrtes Mädchen, oft krank, aber umso entschlossener, sich nicht einschüchtern zu lassen. Ihr Umfeld ist geprägt von einem so starken wie selbstverständlichen konfessionellen Zugehörigkeitsgefühl und einer latenten Kampfbereitschaft: "Evelyn und ich bekommen einen Fußball und spielen am Kohlenschuppen damit. Sie wäre gern Manchester United, aber ich erkläre ihr, Protestanten könnten nur Manchester City sein. Sie gewinnt trotzdem."

Autobiografien sind notwendigerweise selektiv. Mantel selbst nennt sie sogar "eine Form von Schwäche". Manches, dem man als Leser gerne auf den Grund ginge, bleibt unerklärt. So erfährt man beispielsweise, dass die Autorin den Mann, von dem sie sich schon einmal getrennt hatte, ein zweites Mal heiratete. Warum sie das tat, erklärt sie nicht. Solche Leerstellen zu lassen, ist ihr gutes Recht, zumal Mantel von vornherein entwaffnend offen eingesteht, zu wissen "dass sich die Erinnerung einer Familie zu verzerren beginnt, wenn sie sich zum Verschweigen von etwas entschließt". Erinnerung ist für sie immer zusammengestoppelt, "und die Verzerrungen produzieren weitere Verzerrungen". Die traumartige, oft albtraumhafte Unschärfe ihrer Memoiren erscheint ebenso sehr als unvermeidliche Folge solcher Verzerrungen wie als grundlegende Schreibhaltung.

Als Katholikin habe sie früh gelernt, das eigene Ende zu betrachten, heißt es

Autobiografien sind auch Selbststilisierungen. Ob man Mantels Memoiren mit Gewinn liest, hängt davon ab, ob man gewillt ist, die Leiden der Autorin so ernst zu nehmen, wie sie selbst es tut. Unbestreitbar ist die physische und seelische Not, in die eine lange nicht diagnostizierte und daher - unter anderem als Psychose - fehlbehandelte Endometriose sie versetzt. Die Nebenwirkungen dieser Unterleibskrankheit und der diversen Therapien gehen mit einer fortschreitenden Entkoppelung von Außen- und Innenwelt einher. Mantels scharfer Geist wohnt nun nicht mehr in einem dürren, sondern einem immer unförmiger werdenden Leib. Migräneanfälle machen ihr zu schaffen, ihre Gebärmutter muss entfernt werden. Mantel berichtet davon ohne Larmoyanz.

Hilary Mantel: Von Geist und Geistern. Autobiografie. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. DuMont Buchverlag, Köln 2015. 240 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 14,99 Euro. (Foto: N/A)

Doch ihr wohl nur durch die Niederschrift zu bändigendes Leiden an der Welt ist umfassender. Denn dieser Welt ist das Böse eingeschrieben. "Von Geist und Geistern" heißt im Original "Giving up the Ghost" - den Geist aufgeben. Doch dient dieser vergleichsweise schmale Band vor allem der Geisteraustreibung, oder besser: dem Exorzismus ihrer eigenen Geschichte. Mantel hat sich mit dem Ekel der verletzten Apostatin von der katholischen Kirche abgewandt. Die Art, wie sie ausgerechnet Thomas Morus in ihrer Tudor-Trilogie zum Schurken macht, ist Ausdruck dieser Abwendung. Aus der in der Jugend fraglos akzeptierten Indoktrination, dem verlorenen Gefühl göttlicher Gnade, erwächst die spätere Ablehnung. Zugleich bleibt aber ihr ganzes Weltbild zutiefst katholisch.

Und so muss man die womöglich prägendste Episode ihres Lebens ohne ironische Distanz lesen, will man sie in ihrer ganzen Tragweite begreifen: Die Siebenjährige wird im Garten einer Präsenz gewahr, "ein Kräuseln, eine Unruhe in der Luft. Nichts zu riechen. Nichts zu hören. Aber da ist eine Bewegung, ihre unverschämte Verlagerung dreht mir den Magen um. An der Peripherie, der Grenze all meiner Sinne, kann ich die Dimensionen der Kreatur spüren." Diese Kreatur ergreift für Augenblicke Besitz vom Kind. Es reißt sich los und flieht ins Haus. "Wäre ich zurück in den Garten geschickt worden, denke ich, wäre ich gestorben." Ist Hilary im Garten dem Teufel begegnet? "Wenn ich allein für mich bin, und daran denke", stellt sie fest, "kann ich kaum darüber lachen." Und wer bei der Lektüre darüber lacht, steht als Leser dieser Memoiren auf verlorenem Posten.

Als Katholikin habe man gelernt, sein Ende zu betrachten, schreibt Hilary Mantel: "Du wurdest ermutigt, deinen eigenen Tod einzuüben." Die Cromwell-Trilogie, auf deren abschließenden Band nicht nur die britische Leserschaft begierig wartet, ist ebenfalls eine Biografie. Mantel muss darin den Blick nicht auf sich selbst richten. Sie kann sich vielmehr in ihrem komplexen, enigmatischen Protagonisten spiegeln, für den sie offenkundig persönliche Zuneigung empfindet. "Das gesamte katholische Leben", heißt es in "Von Geist und Geistern", "wird im Schatten eines glücklichen Todes gelebt - als spielte es sich in einem silbrigen, fleckigen Spiegel ab, uralt und dem Betrachter schmeichelnd." Thomas Cromwell wird sterben in Mantels nächstem Buch. Sein Tod wird den großen Erzählbogen beenden, den sie aus sicherer historischer Distanz für ihn gebaut hat. Damit wird seine Lebensgeschichte auf eine so befriedigende Weise abgeschlossen sein, wie Autobiografien es niemals sein können. Zumindest dann nicht, wenn sie so ehrlich und darum so verwirrend sind wie die Hilary Mantels.

© SZ vom 08.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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