Ausstellung:Verhängnisvolle Träume

"La donna che legge" heißt eine Ausstellung, die gegenwärtig in Venedig gezeigt wird, "Die Frau, die liest". Sie ist Coco Chanel gewidmet und den Künstlern, mit denen sie sich umgab.

Von Thomas Steinfeld

Auch Madame Bovary war eine Leserin. In ihrer Jugend las sie Bücher, die sie von einem romantischen Leben auf einer Insel im Indischen Ozean träumen ließen. Später befeuerte die Lektüre von Liebesromanen und Modejournalen ihre Leidenschaft für die materielle Ausstattung der mondänen Gesellschaft von Paris, für ihre Kleider und ihre Möbel, für ihre Accessoires und Vergnügungen. Als sie von ihrem ersten Liebhaber verlassen wurde, flüchtete sie in Werke der christlichen Erbauung, bei anderer, ähnlicher Gelegenheit erfüllten historische Werke denselben Zweck: sich hinauszuträumen in eine andere Welt, die es der Leserin erlaubte, als Heldin einer sentimentalen Geschichte aufzutreten. Keinen Zweifel lässt Gustave Flaubert, dass Verzweiflung und Untergang seiner Heldin durch deren Lektüren nicht nur begleitet, sondern auch gestiftet wurden. Wobei der Umstand, dass Emma Bovary die Protagonistin eines auch und vor allem von Frauen gelesenen Buches ist, das Lesen somit zu einer doppelt zwiespältigen Tätigkeit werden lässt: Manchmal soll das Lesen verführerisch und verhängnisvoll sein, manchmal läuft es auf das Gegenteil hinaus.

"La donna che legge" heißt eine Ausstellung, die gegenwärtig in der Ca' Pesaro gezeigt wird, dem Museum für moderne Kunst in Venedig: "Die Frau, die liest". Das erste Exponat besteht im Manuskript der "Madame Bovary", das aus der Bibliothek von Rouen, der Heimatstadt Gustave Flauberts, geschickt wurde. Das zweite Schaustück ist ein Stundenbuch aus dem frühen 15. Jahrhundert. Aufgeschlagen ist das Werk bei Mariä Empfängnis. Das dritte Exponat ist eine Fotografie aus dem Jahr 1908. Sie zeigt eine schlafende Frau, die, auf einem Sessel hingestreckt, ein Buch in der Hand hält. Die Frau ist Coco Chanel, sie lebte von 1883 bis 1971, die entlaufene Näherin aus der Provinz, die nicht nur die moderne Mode, sondern auch die dazugehörige Industrie erfand.

Ihr sind diese Bücher zugeordnet, gleichgültig, ob sie ihrer Bibliothek entstammen oder nicht - und sie besaß nicht nur eine große Büchersammlung, sondern war offenbar auch eine eifrige Leserin. "Das Leben, das wir führen, ist keine große Sache", heißt es in einer handschriftlichen Notiz Coco Chanels, die das vierte Exponat bildet, "das Leben, von dem man träumt hingegen, das ist das große Dasein, weil es über den Tod hinausreicht." Das Träumen soll hier zum Lesen gehören. Muss man die Träume deswegen begrüßen? Oder anders gesagt: Waren die Träume Coco Chanels weniger verhängnisvoll als die Träume Emma Bovarys? Und wenn sie nicht ins Unglück führten, warum nicht?

Die Mode erhob sich über die Traditionen, um der assoziativen Willkür freie Bahn zu geben

Die Ausstellung gibt keine Antwort auf diese Fragen. Sie hat etwas anderes im Sinn. Zum einen rekonstruiert sie Coco Chanels Bibliothek, die zu einem wesentlichen Teil aus alten und neuen Klassikern besteht, aus den Werken Homers und Guy de Maupassants, aus den Büchern von Cervantes und Rainer Maria Rilke. Frei assoziierend ergänzt die Schau die Sammlung um Bücher, die darin hätten stehen können, um Ausgaben von Sophokles' Tragödien und Stéphane Mallarmés Gedichten zum Beispiel. Zum anderen lässt sie den Kreis der Literaten, Künstler und Musiker auftreten, in dem sich Coco Chanel von den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bis in die sechziger Jahre bewegte und der ihr offenbar nicht nur Inspiration, sondern auch Gesellschaft und Geborgenheit schenkte. Henri Matisse ist ebenso dabei wie Pablo Picasso. Bestimmt aber werden diese Kreise durch die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts. Jean Cocteau und André Breton, Tommaso Marinetti und Tristan Tzara, die Surrealisten, die Dadaisten und die Futuristen: Sie bilden die engere Umgebung, aus der das Bild des zeitgemäßen Menschen emporsteigen soll, wie es Coco Chanel entwarf und Tausende von Näherinnen verfertigten.

Die ästhetische Moderne und die zu einer Massenbewegung werdende Mode kennen dasselbe Paradox: So wie der Künstler zu einer Gruppe gehört, die ihre Festigkeit durch die Suffixe "-ist" oder "-ismus" kundtut, aber zugleich als absolut Einzelner kenntlich sein will, so erwartet der modische Mensch, als Avantgardist gewürdigt zu werden, indem er der Masse folgt. Er macht, "was die anderen machen, um anders zu sein" (Elena Esposito). Und so, wie die ästhetische Moderne das Korsett der künstlerischen Überlieferung sprengte und plötzlich sehr separate und gewöhnliche Dinge als erhabene Gegenstände der Kunstbetrachtung erscheinen konnten, so erhob sich die Mode über die Traditionen und die Klassenunterschiede, um dem Neuen zu huldigen und der assoziativen Willkür freie Bahn zu geben. Die Ausstellung, die in Venedig gezeigt wird, weil diese Stadt einer der Lebensorte Coco Chanels war, macht sich das assoziative Verfahren zu eigen und scheut dabei keinen Aufwand. So wird aus der Parallele zwischen Kunst und Mode ein Ineinander, das von der Mode und mehr noch: von der Marke beherrscht wird. Wenn Coco Chanel für den Schriftzug auf dem Flacon ihres Parfums "No. 5" (1921) eine Typographie benutzt, die Tristan Tzara im Jahr 1918 für eine Art Visitenkarte des Dada entworfen hatte, erscheint das Etikett nicht als Entlehnung. Es ist umgekehrt: Die Benutzung der Schrift für die Verpackung eines erfolgreichen Konsumartikels adelt den Dadaismus und seinen Künstler.

"Alle Mittel sind legitim", notierte Jean Cocteau im Jahr 1932 für die Freundin Coco

In fünf Räumen der Ausstellung werden hauptsächlich Bücher und Manuskripte gezeigt, viele davon mit Zeichnungen oder Illustrationen versehen, aber doch im wesentlichen aus Texten auf Papier bestehend. Eine aufwendige, eigens für die Schau in diesem Haus geschaffene Technik sorgt dafür, dass die Gegenstände gralsgleich im Raum zu schweben scheinen. Im letzten, ungleich größeren Saal herrschen andere Verhältnisse: In den Tischvitrinen liegen Gegenstände, die mit dem Leben und dem Werk Coco Chanels verknüpft sind, das Manuskript einer Programmschrift für die Mode mit dem Titel "Tous les moyens sont légitimes ..." ("Alle Mittel sind legitim ...), die Jean Cocteau im Jahr 1932 für Coco Chanel verfasste, Igor Strawinskys Handschrift der Partitur für die Ballettmusik "Le sacre du printemps", für deren Aufführung sie die Kostüme entwarf, ein paar von Coco Chanel kreierte, sehr teure, aber eher geschmacklose Juwelierarbeiten. Darüber erhebt sich die "Haute Couture": Kostüme, Abendkleider, Jacken. Doch keiner dieser Entwürfe stammt von Coco Chanel. Zu sehen sind vielmehr jüngere Arbeiten Karl Lagerfelds, des amtierenden Kreativchefs der Firma Chanel. Die Ca' Pesaro ist zwar ein prächtiger Palast des Barock, aber auch eine kommunale Einrichtung. Sie hätte nicht die Mittel, eine solche Ausstellung auszurichten, weder im Hinblick auf die Leihgaben noch auf die Techniken des Zeigens. Und der Besuch aus Paris hat offenbar seinen Preis, nicht nur, weil sie das jüngste einer ganzen Reihe von Ereignissen ist, in denen sich Venedig gegenwärtig in eine Metropole für globale Luxusartikel verwandelt.

Ein Markenartikel ist stumm. Der Umgang mit ihm setzt keine literarische oder künstlerische Bildung voraus, auch wenn der Philosoph Roland Barthes behauptete, Coco Chanel sei eine "neue klassische" Schriftstellerin, die ihre Bücher in Stoffen und Farben geschrieben habe. Und doch sprechen nun die Bücher für Coco Chanel, für ihr Werk und ihre Firma. Sie tun es, weil sie berühmte Kunstwerke sind, und weil man annimmt, dass sich in ihnen das poetische Vermögen der Menschheit verkörpert (in ähnlichem Sinne wird hier Venedig beansprucht). Sie tun es nicht, weil man über ihren Inhalt etwas zu sagen wüsste. So kommt es, dass Madame Bovary noch mehrere Male in der Ausstellung auftritt, in Gestalt der Erstausgabe zum Beispiel oder mit zwei Passagen aus dem Werk: Die eine handelt von einem Ritter mit weißen Helmbusch auf einem schwarzen Pferd, von dem sie lesend träumt, die andere von der Erregung, die sie angesichts von beschriftetem Seidenpapier erfasst. Kein Wort fällt darüber, dass diese Erregung sie ins Unglück und in den Selbstmord führt. Denn was in der Ausstellung nicht vorkommt, ist das, was sie zu zeigen beansprucht: Lektüre.

Culture Chanel. La donna che legge. Ca' Pesaro, Venedig. Bis 8. Januar 2017. Das Beiheft zur Ausstellung (italienisch, französisch, englisch) ist kostenlos.

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