Ausstellung über modernes Nomadentum:"Einlagerung der überzähligen Menschheit"

Notlager in Mugunga in der Demokratischen Republik Kongo.

Provisorische Unterkunft in Mugunga in der Demokratischen Republik Kongo.

(Foto: Sylvain Liechti/UN Photo)

Idomeni ist geräumt, aber immer noch leben weltweit 75 Millionen Menschen in Notlagern: Die Pariser Ausstellung "Wohnen im Lager" erörtert das Phänomen der modernen Massenunterkünfte.

Von Joseph Hanimann

Wo Not am Mann war, waren in der Geschichte oft auch Architekten mit guten Ideen zur Stelle. Idomeni, das gerade geräumte provisorische Flüchtlingslager an der griechisch-mazedonischen Grenze, hätte einen Le Corbusier gut gebrauchen können. Der machte mit seinem - gerade prachtvoll restaurierten - Obdachlosenheim der Heilsarmee in Paris die Notunterkunft zu einem Licht- und Farbenwunder.

Jean Prouvé suchte mit seinen Fertighäusern nach dem Krieg eine industrielle Lösung für die Pariser Vorstadt-Slums. Noch in den Neunzigern entwickelte der Architekturtheoretiker Paul Virilio ein Programm mobiler Notbehausungen für Obdachlose auf Restbrachen in der Stadt.

Inzwischen sind Behelfsunterkünfte jedoch weltweit zu einem Massenphänomen geworden, das mit seiner Dringlichkeit Architekten und Stadtplaner überfordert. 75 Millionen Menschen leben heute weltweit in Notlagern, fast eine Milliarde in improvisierten Elendsvierteln.

Auf offiziellen Karten sind diese Lager, die Slums, Favelas, Bidonvilles meist nicht verzeichnet. Sie seien "die Lösung zur Einlagerung der überzähligen Menschheit im 21. Jahrhundert", schrieb der amerikanische Soziologe Mike Davis böse.

Ihre mal technokratisch durchrationalisierten, mal völlig wilden Formen und Funktionsweisen sind aber Gegenstand der Forschung geworden. Wobei die an den Rändern der Megapolen zwischen Elend und Erfindungsreichtum sich entwickelnden Lebensformen mal faszinieren und mal schaudern lassen. Führt unfreiwillige Anarchie zu neuen Organisationsformen des Alltags oder in den nackten Überlebenskampf?

Sechs unterschiedliche Lagertypen

"Wohnen im Lager" heißt eine Pariser Ausstellung, die eine umfassende Katalogisierung dieses Phänomens versucht. Die Gräuel der Straf- und Vernichtungslager des vergangenen Jahrhunderts bleiben dabei bewusst ausgespart. Es geht um eine Bestandsaufnahme der Gegenwart. Sechs Experten entfalten unter Leitung der Kuratorin Fiona Meadows ein Panorama von sechs unterschiedlichen Lagertypen.

Vom traditionellen Nomadenlager etwa der Wanderarbeiter reicht diese Typologie des Lagerlebens zu Freizeitkultur, zu Militär- und Forschungslagern, zu organisierten Flüchtlings- und improvisierten vorstädtischen Elendslagern bis hin zu den Protestlagern, die in den "Occupy"-Bewegungen oder derzeit in der Pariser "Nuit debout" neue Formen der Gesellschaftskritik durch Besetzung des öffentlichen Raums erproben.

Eine kulturhistorische Einengung des Nomadentums auf die Sahara-, Tundra- oder Eismeervölker ist, so der Ökonom Arnaud Le Marchand, nicht mehr haltbar. Mit den Fernstreckenfahrern, Hochseefischern, Wohnwagenrentnern und Saisonarbeitern ist das Wanderleben in die moderne Gesellschaft zurückgekehrt.

Eine Spitzentechnologie der Logistik ist gefordert

Das Flüchtlingslager Dadaab in Kenia.

Technology of disaster: Das Flüchtlingslager Dadaab in Kenia.

(Foto: REUTERS)

Auch die Ferien- und Festival-Lagerkultur hat sich seit dem 19. Jahrhundert aus der Bürgerwohnung entwickelt und pendelt zwischen zwei völlig konträren Verlockungen: temporärer Konsumstopp durch Beschränkung aufs Wesentliche und Mobilmachung des Wohnzimmerkomforts im Campingwagen.

Gesellschaftlich akut ist heute aber vor allem das Thema der Migranten-, Flüchtlings- und Elendslager. Diese Orte des rechtlichen Ausnahmezustands durch eigenmächtige Besetzung oder durch administrative Einquartierung sind in allen Erdteilen verbreitet.

Das gegenwärtig größte Flüchtlingslager ist das 1991 eröffnete von Dadaab in Kenia: ein vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge verwalteter Komplex im Niemandsland, der nach inoffiziellen Schätzungen zeitweise bis zu einer halben Million Bewohner zählt.

Für architektonische und stadtplanerische Überlegungen ist da kein Platz. Die Elementarbedürfnisse wie Versorgung durch Grundwasserpumpen, Nahrungsverteilung, Straßenbau und Kanalisation, Positionierung der Relais für Mobiltelefone haben Priorität.

Eine Spitzentechnologie der Logistik ist gefordert - der Philosoph Adi Ophir spricht von einer "Technology of Disaster". Zehntausende von Zelten wurden in Dadaab vorverpackt vom Flugzeug abgeworfen und in Rekordzeit aufgestellt.

Irritierender Zusammenhang zwischen Konzentrations- und Rettungslager

Die Existenz solcher Nothilfe wirft aber auch unbequeme Fragen auf. In der Pariser Ausstellung weist die Anthropologin Clara Lecadet auf einen Zusammenhang zwischen Konzentrations- und Rettungslager hin.

Die Konzentration eines Bevölkerungsteils auf einem bestimmten Raum sei zum ersten Mal von der spanischen Armee während des Unabhängigkeitskrieges in Kuba 1896 angewandt und dann während des Burenkrieges von den britischen Behörden in Südafrika übernommen worden, beschönigt durch das Wort "Flüchtlingslager".

In der Ambivalenz zwischen Obhut und Bevormundung werde eine humanitäre Aktion auch zur Verfügungsgewalt über Menschen, erläutert Clara Lecadet in Anlehnung an Michel Foucault: ein Prozess, in den Nothelfer ebenso wie Planer, Logistiker und mitunter Architekten involviert seien. Als Bestätigung für dessen Fragwürdigkeit sieht die Anthropologin die Einquartierung von Flüchtlingen unlängst in einem KZ-Verwaltungsgebäude von Dachau.

Bewegungslogik wird durch Besetzungslogik ersetzt

Bedenkenswert ist aber auch das, was gerade in den nächtlichen Protest- und Diskussionslagern der "Nuit debout" in Frankreich passiert. Ist dies die neue Variante der Occupy-Bewegung?

Supporters of social media-driven movement 'Nuit Debout' (Rise up at Night), shout during an event in Paris

Immobile Besetzungslogik: Demonstranten der Bewegung "Nuit debout" okkupieren den öffentlichen Raum, hier die Place de la Republique in Paris.

(Foto: REUTERS)

Seit dem Krisenjahr 2008 habe der Gesellschaftsprotest in Athen, Madrid, New York, aber auch in Kairo, Istanbul und Kiew von der Bewegungslogik der Demonstrationszüge zur immobilen Besetzungslogik gewechselt, erklärt der Geograf Michel Lussault.

Das Marschieren im Namen eines allgemeinen Prinzips - gegen Kapitalismus, Aufrüstung oder Atomkraft - ist dem Campen an symbolträchtigen Orten im Namen eines konkreten Hier und Jetzt gewichen. Das Alternativmodell liegt nicht mehr in fernen Aussteiger-Paradiesen, sondern mitten in der existierenden Stadt. Lussault spricht von einem "Raum-Kommunismus".

Mehr als in allgemeinen politischen Programmen drücke die Forderung nach Gesellschaftsveränderung sich in der Praxis des gemeinsamen Lagerlebens aus.

Allerdings werden in Paris nach jeder "Nuit debout" die improvisierten Zelte wieder abgebaut und jeder geht heim ins eigene Bett. Für Lussault ist das kein Grund, die Bewegung nicht in der Kontinuität der anderen Bewegungen zu sehen, mit der Besonderheit nur, dass entsprechend der französischen Debattenkultur der offene Wortwechsel das gemeinsame Wohnen, Essen, Kochen und Schlafen ersetzt.

"Campements" sollen zu festem "camps" werden

Für die Behörden und Institutionen ist dieses Verhalten im öffentlichen Raum eine Herausforderung. Die "Geomacht", wie Lussault in Anlehnung an Michel Foucaults "Biomacht" die öffentlichen und die privaten Führungsinstanzen nennt, sucht alle menschlichen Tätigkeiten in vorgegebene Raummuster zu bringen und die "campements" in feste "camps" zu verwandeln.

Das geschieht im Migrantendschungel von Calais wie in einem geplanten, architektonisch gestylten Migrantenwohnheim im vornehmen Pariser 16. Arrondissement, das die sonst diskreten Anwohner in diesem Frühjahr aus ihren Salons zu lärmenden Aktionen auf die Straße trieb. In all ihren Erscheinungsformen sind Menschenlager zum Belastungstest für die demokratische Gesellschaft geworden.

Habiter le campement. Cité de l'architecture et du patrimoine, Paris. Bis zum 29. August. Katalog 39 Euro. Info unter www.citechaillot.fr

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