Ausstellung über jüdische Kinder:Überleben im Versteck

Zvi Aviram mit seiner Schwester Betty, 1934 im Garten der Familie Grünberg.

Foto aus unbeschwerteren Tagen: Zvi Aviram mit seiner Schwester Betty, 1934 im Garten der Familie Grünberg. Sie konnte später nach London fliehen, er fand bei Grünbergs eins seiner vielen Verstecke.

(Foto: Privatbesitz von Zvi Aviram)

Nicht nur Anne Frank hat sich vor den Nazis versteckt. In Berlin haben Tausende Juden versucht, im Untergrund zu überleben. Eine ergreifende Ausstellung erzählt von Kindern, denen das gelang - und von denen, die nicht so viel Glück hatten.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

Werner Foß strahlt von der erleuchteten Schauwand. In seinem Antlitz dasselbe spitzbübische Grinsen, das dem Besucher auch von seinen Kinderfotos entgegenstrahlt. Er hat unglaubliche Angst durchlitten, seine Schulfreunde haben Familienangehörige an die Nazis verloren, er hat seine Kindheit in Schrecken verbracht. Und doch: Er hat überlebt. Werner Foß wurde nicht gebrochen.

Die Ausstellung "Kinder im Versteck - Verfolgt. Untergetaucht. Gerettet?" im Berliner Abgeordnetenhaus ist winzig. Nur fünf beleuchtete Säulen mit Fotos und Text erinnern an die Schicksale einzelner Kinder, die in Berlin zur Zeit des Nationalsozialismus aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verfolgt wurden. Doch die Dichte ist die Stärke dieser Ausstellung. Dem Besucher bleibt an manchen Stellen die Luft weg.

Da ist zum Beispiel das Foto aus dem Jahr 2000. Ohne den Hintergrund zu kennen, sieht es für den Besucher aus wie das Abbild einer ganz normalen Familienfeier: Ältere Damen sitzen an einem runden Wohnzimmertisch, umrahmt von jüngeren Angehörigen, die Stimmung ist herzlich, überall sind Blumen - auf dem Tisch, auf der Tischdecke, sogar auf der Tapete. Doch wer sich den Hintergrund über die Schautafeln angelesen hat, der weiß: Dies ist eben nicht das Bild einer ganz normalen Familie, und es ist auch überhaupt nicht normal, dass es diese Familie überhaupt gibt.

Alles blüht

Sie konnte nur deshalb wachsen und so fröhlich aufblühen, weil Maria Nickel, die kleine grauhaarige Dame, die hier mit sonnigen Augen ihren 90. Geburtstag feiert, Jahrzehnte zuvor mit ungeheurem Mut dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen hat.

Maria Nickel aus Kreuzberg sah im Jahr 1942 eine hochschwangere Frau auf der Straße zur Zwangsarbeit hetzen, am nächsten Tag wieder. Einige Tage später, die schwangere Ruth Abraham fühlte sich schon verfolgt, sprach Maria Nickel sie an: "Haben Sie keine Angst, ich will Ihnen nur helfen. Ich bin selber Mutter und weiß, wie schwer es für Sie werden wird." Sie besorgte den werdenden Eltern falsche Pässe, die auf die selbst und ihren Mann zugelassen waren.

Mit Baby in den Untergrund

Am 18. Januar 1943 musste die 28-jährige Ruth Abraham dann miterleben, wie ihre Schwester samt Familie von den Nazis nach Theresienstadt abtransportiert wurde, nachdem schon ihre Eltern und die ihres Mannes verschleppt worden waren. Einen Tag später brachte sie ihre Tochter Reha zur Welt.

Sie wird später sagen: "So unwahrscheinlich es klingt, ich wollte trotz allem in dieser Zeit ein Kind haben." Für den Fall, dass auch sie und ihr Mann Walter den Nazi-Terror nicht überleben sollten, wollte sie zumindest ein jüdisches Leben zurück lassen. Drei Tage nach der Geburt floh die Familie in den Untergrund.

Es folgten Jahre des Versteckens, Bangens, Hoffens, Jahre der Krankheit und der Entbehrung, Jahre, in denen die Kleinfamilie den Glauben an die Menschheit hätte verlieren können. Wäre da nicht unter anderen Maria Nickel gewesen. Sie half mit Lebensmitteln aus, narrte die Gestapo, als die falschen Pässe aufflogen und gab Reha als ihr eigenes Kind aus, um sie in der Charité behandeln zu lassen.

Die Familie überlebte und wanderte 1948 in die USA aus. Seitdem kehrte sie immer wieder nach Berlin zurück, um die Frau zu besuchen, die ihr ohne Rücksicht auf ihr eigenes Schicksal das Leben gerettet hat - so auch zu deren 90. Geburtstag.

Ruth und Walter Abraham kurz nach der Geburt von Tochter Reha im Januar 1943.

Ruth und Walter Abraham kurz nach der Geburt von Tochter Reha im Januar 1943. Das Mädchen war ihre ganze Hoffnung.

(Foto: Privatbesitz von Reha Sokolow)

Es sind einzelne, selbstlos helfende Menschen wie Maria Nickel, dazu ein paar Zufälle, die auch Werner Foß haben überleben lassen. Er war mit seiner Familie jahrelang in der Wohnung einer Bekannten seines Vaters versteckt. "Mein Vater war ein Playboy, bevor es dieses Wort überhaupt gab", wird er später sagen. Und auch, dass er glaubt, dass die Familie nur überlebt hat, weil jene Bekannte in seinen Vater verliebt gewesen sei. Nach der Befreiung hat der kleine Werner, das Foto zeigt ihn mit Schlips und Kragen, ein Lied komponiert, jauchzend vor Freude darüber, dass alle noch am Leben sind.

Von der Rettung bis zum Verrat

Andere Kinder aus der Ausstellung hatten nicht so viel Glück. Ruth Horn etwa - von ihr gibt es keine Bilder - kann nur aus der Erinnerung gezeichnet werden. Der Arbeitgeber ihres Vaters hielt sie und ihre Familie hinter einem Schrank versteckt - bis sie entdeckt wurden. Sie waren verraten worden und wurden anschließend ermordet. An dieser Stelle zeugt das amtliche Dokument über die "Vermögensangelegenheiten" der kleinen Ruth davon, mit welcher Kälte und Härte die Behörden damals noch die kleinsten und hilflosesten unter ihren Opfern unter vorgeblich unabänderlichem Beamtendeutsch all ihrer Rechte und zum Schluss ihres Lebens beraubten.

Von Ruth Süßmann und ihrer Schwester Gitti gibt es ein Bild, auf dem sie mit der Tochter ihrer Fluchthelferin im Hof spielen. Es war kurz vor Kriegsende, die Chancen zum Überleben standen nicht so schlecht. Doch es ist das letzte Foto, das von den Kindern aufgenommen wurde, bevor auch sie in ihrem Versteck aufgespürt wurden und dem mörderischen Naziregime zum Opfer fielen.

7000 Jüdinnen und Juden haben allein in den letzten beiden Kriegsjahren in Berlin versucht, in Verstecken zu überleben. Ausreisen konnten sie längst nicht mehr, nicht mal mehr Zwangsarbeit war erlaubt, sie alle waren zum Abschuss freigegeben. Nur etwa 1500 von ihnen, so die Schätzungen, haben bis zur Befreiung im Mai 1945 durchgehalten.

Es ist ein weiterer Pluspunkt der Ausstellung, dass sie beide Seiten präsentiert: Rettung und Überleben, Verrat und Verderben. Sie lässt erahnen: Wenn die Hölle auf Erden wieder mal losbricht, wird es immer Menschen geben, die dabei tüchtig mitmischen. Es wird aber wohl auch immer solche geben, die sich mit ihrer ganzen Kraft dem Unmenschlichen entgegenstellen und Mitgefühl über alles andere walten lassen. Sie können ebenfalls Übermenschliches bewegen. Und sei es nur, einem einzelnen Kind das Leben zu retten.

Die Ausstellung ist noch bis zum 18. November zu besichtigen, montags bis freitags von 9 bis 18 Uhr, im Abgeordnetenhaus Berlin, Niederkirchnerstr. 5. Sie ist als Wanderausstellung angelegt und kann auch ausgeliehen werden. Weitere Infos: http://www.annefrank.de/wanderausstellungen/alle-angebote/kinder-im-versteck

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