Ausstellung:Manisch fleißig

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Das Franz Marc Museum zeigt Arbeiten von Kirchner

Von Sabine Reithmaier, Kochel am See

Ernst Ludwig Kirchners "Blaue Artisten" hängen kopfunter im Kochler Franz Marc Museum. Das hat nichts mit Baselitz zu tun, sondern mit der Rückseite des Gemäldes. Kirchner hat die Leinwand auf beiden Seiten bemalt. Während auf der einen Seite Trapezkünstlerinnen hoch unter der Zirkuskuppel auf ihren Auftritt warten, schlendern auf der anderen Seite zwei graziöse weibliche Akte mit Tennisschlägern auf den Betrachter zu. Kirchner malte die beiden 1913, ein Jahr vor den "Artisten", zu einer Zeit, als er die Sommermonate an der Ostsee auf Fehmarn verbrachte und häufig nackte Körper am Strand zeichnete.

In der kleinen Kochler Ausstellung geht es weniger um den Farbenmenschen Kirchner als vielmehr um den Zeichner. Seinen Zeichendrang schildern Zeitgenossen als nahezu manisch. "Ich muss zeichnen bis zur Raserei", schrieb er selbst einmal. Und in einem Text über Kirchner, den er höchstpersönlich unter dem Pseudonym Louis de Marsalle schrieb, stellte er fest: "Er zeichnet, wie andere Menschen schreiben." Er skizzierte nicht nur am Strand oder während Spaziergängen, sondern auch in Tanzlokalen, notfalls sogar im dunklen Kino. Und er dachte immer multimedial, malte und zeichnete nicht nur, sondern fertigte Holzschnitte und Lithografien, fotografierte und variierte immer wieder dasselbe Motiv. Ab und an auch mit Hilfe einer Skulptur: 1915 schuf er den "Bäumenden Reiter", eine Plastik, in der er persönliche Kriegserfahrungen verarbeitet: Er hatte sich zur berittenen Feldartillerie gemeldet. Dasselbe Motiv setzt er nahezu zeitgleich in einer ebenfalls gezeigten Lithografie um.

Die Studioausstellung, die überwiegend Grafik aus allen Schaffensperioden Kirchners zeigt, stützt sich auf den eigenen Bestand des Museums. Dieser hat sich in den jüngsten Jahren erheblich verbreitert, sei es durch Dauerleihgaben, sei es durch Ankäufe. Manche Blätter sind wirklich nur flüchtig hingeworfene Skizzen, andere Arbeiten sind breiter angelegt und farbig akzentuiert. Scharf gezogene Konturlinien entwickeln sich aus Bewegungsimpulsen, die Kompositionen sind klar gegliedert: Heitere vitale Strand- und Tanzszenen stehen neben düsterster Depression, die den Holzschnitt "Die Selbstmörderin" kennzeichnet. Dass Kirchner gern Leinwände doppelseitig verwendete, ist inzwischen oft dargestellt worden. 138 beidseitig bemalte Bilder hat der Kirchner-Forscher Wolfgang Henze ermittelt. Finanzielle Engpässe waren - da ist man sich inzwischen sicher - nicht der Grund für die Doppelnutzung, eher der Versuch, etwas Neues und noch Besseres zu schaffen.

Wie groß sein Perfektionsdrang war, lässt sich auch daran ablesen, dass er fertige Gemälde immer wieder übermalte. 1917 zog er in die Schweiz. Als Freundin Erna ihm die in Berlin verbliebenen Bilder nachsandte, spannte er die Leinwände verkehrt herum auf, vermutlich auch deshalb, um sich von seinem expressionistischen Frühwerk zu distanzieren. Doppelseitig präsentiert wollte er sie auf jeden Fall nicht haben. Doch zum Glück kann Kirchner seine eigene Rezeption nicht mehr steuern, obwohl er dies jahrzehntelang versuchte. Wer es bald nach Kochel schafft, hat sogar noch Gelegenheit, die Ausstellung "Schöne Aussichten - Der Blaue Reiter und der Impressionismus" (bis 19. Juli) zu sehen.

Ernst Ludwig Kirchner: Energie der Linie , bis 27. September, Franz Marc Museum, Kochel

© SZ vom 08.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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