Ausstellung:Jeder Schuss ein Treffer

Die unglaubliche Bilderwelt des Fotomagazins "Hamburger Eyes" im Münchner Kunstverein

Von Evelyn Vogel

Wie verrückt ist das denn? Da gehen zwei Jungs kurz nach der Jahrtausendwende in San Diego hin, legen eine Reihe von Fotos auf den Schwarz-Weiß-Kopierer, falten und klammern sie zu einem provisorisch anmutenden Magazinchen zusammen - und schreiben damit eine unglaubliche Erfolgsgeschichte. Denn seither ist Hamburger Eyes, so jedenfalls nennen die Brüder Ray und David Potes ihre Publikation, nicht nur regelmäßig erschienen - zuletzt bis zu vier Mal pro Jahr. Es hat mit seiner Ästhetik auch andere große Magazine beeinflusst, wurde als Kunstprojekt ausgestellt und verfügt mittlerweile über ein etwa 1000 Fotografen umfassendes Netzwerk.

Völlige No-Names schicken ihre Bilder in der Hoffnung auf Abdruck ebenso an Hamburger Eyes wie renommierte Fotografen Bildmaterial zur Verfügung stellen. Die Originale stammen ebenso von alten analogen Kameras wie von Smartphones und mega-teurem digitalem Profi-Equipment. Zwar wird mittlerweile nicht mehr im 24-Stunden-Copyshop per Hand kopiert, sondern in ordentlichen Verlagen im Off-Set-Druck-Verfahrer produziert. Auch hat man ein eigenes Labor und mit Burgerworld einen eigenen Verlag, mit Zine Kong sogar einen eigenen Distributionsweg, und schließlich hat man neben dem Hauptstandort San Francisco sogar einen Ableger in Los Angeles gegründet. Eines aber ist gleich geblieben: Noch immer ist Ray Potes Fotograf und Herausgeber und stellt aus meist 600 Bildern jede Ausgabe eigenhändig zusammen. Sein Bruder David widmet sich derzeit mehr der Kochkunst - weshalb auch immer wieder Motive rund ums Essen auftauchen. Das beschäftige ihn derzeit eben ziemlich, erzählt David bei einem Rundgang gemeinsam mit seinem Bruder durch die Ausstellung im Kunstverein.

Dort liegen nun mehr als 1000 Fotos - vom Tintenstrahler in Schwarzweiß ausgespuckt, ungerahmt im immer im gleichen US-Brief-Format - auf schmalen Tischen und mäandern wie Bildbänder durch die Räume. Mal sind es inhaltliche, mal formale Zusammenhänge, die das kuratorische Prinzip der einzelnen, nicht scharf abgegrenzten, sondern immer wieder ineinander übergehenden Bildgruppen bestimmen. Kleine Impressionen der Brüder Potes, ihrer Freunde sowie millionenfach publizierender Blogger-, Tumblr-, Flickr- oder Instagram-Fotografen neben großer Fotokunst wie der von Bill Burke, Brian David Stevens oder Ted Pushinsky, um nur einige Namen zu nennen. Eine Flut von Bildern, die - je öfter man daran entlang geht - sich immer wieder zu eigenen Bildgeschichten zusammenfügen. Streetphotography, die stilistisch den Bogen schlägt von den Anfängen bis heute.

Da sind außergewöhnliche und ganz gewöhnliche Momente zu sehen, völlig abgedrehte, schrille, grenzwertige Situationen finden sich neben total normalen, alltäglichen, dokumentarischen oder auch sehr emotionalen, tief berührenden Szenen. Menschen auf der Straße, zu Hause, in Gruppen, vereinsamt, in der Totale, im Detail, bei der Arbeit, in der Freizeit, privat oder hoch offiziell, posierend oder im Vorbeigehen "abgeschossen", das, was sich für die Elite des Landes hält, neben dem Bodensatz der Gesellschaft. Da finden sich Superhelden neben Strippern, Cowboys neben Ku-Klux-Klan-Kapuzenträgern, Junkies neben Jesus, Rowdies neben Raketenmännern. Es ist eine Bilderwelt, so vielfältig und widersprüchlich wie das Leben selbst. Auch deshalb nennt Hamburger Eyes diese bislang größte Ausstellung, die sie je zusammengestellt haben, "The Continuing Story of Life on Earth". Ergänzt wird die Fotoschau durch Filme wie "Stinky Streets", die an Absurdität mitunter nicht zu überbieten sind. Wer vor den Monitoren verweilt, wird irgendwann unweigerlich von Lachanfällen geschüttelt.

Hamburger Eyes - der Name rührt übrigens daher, dass die gierigen, hungrigen Augen der Fotografen mit ihrer Linse wie einem Zyklopen-Auge, so groß sind wie die legendären amerikanischen Fleischklöpse. Und diese Gier zeitigt im digitalen Zeitalter bei Profi- wie bei Laienfotografen eine solche Bilderflut, dass man sich fragt, ob ein solches Magazin überhaupt zeitgemäß sein kann. Die Antwort: Es kann. Gerade in seiner beeindruckend rauen Ästhetik als Ergebnis eines riesigen digitalen Pools, der in altmodischer Handarbeit gesichtet, gesetzt und gedruckt wird, setzt es der extremen Flüchtigkeit sozialer Medien eine gewisse Nachhaltigkeit entgegen. Die Brüder Potes, sie haben eine Art analoges Instagram geschaffen. Herrlich vielfältig, aber weitaus weniger beliebig.

Hamburger Eyes. The Continuing Story of Life on Earth; Münchner Kunstverein, Galeriestr. 4, Di-So 11-18 Uhr, bis 31. Juli

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