Ausstellung:Im Anfang war der Code

Ausstellung: Mensch, Maschine, Welt – die Grenzen werden fließend. Szenen aus dem Science-Fiction-Film „Esiod“ von Clemens von Wedemeyer.

Mensch, Maschine, Welt – die Grenzen werden fließend. Szenen aus dem Science-Fiction-Film „Esiod“ von Clemens von Wedemeyer.

(Foto: Clemens von Wedemeyer/ZKM)

Die riesige Schau "Open Codes" im Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe widmet sich den Zeichen, aus denen nicht nur die digitale Welt gemacht ist.

Von BERND GRAFF

Die Zeichen, die man Code nennt, sind, direkt nach den Heiligen Schriften diverser Religionen, die machtvollste Verwendung von Text in der Geschichte der Menschheit. Heilige Schriften geben Gläubigen Anweisungen, Codes instruieren Maschinen. Nicht einige Maschinen - nahezu alle Maschinen inzwischen. Codes sind Quelltexte, aus denen künstliche Welten hervorgehen, sie erschaffen Bilder, Filme, Töne, Musik, sie steuern Roboter, bestimmen Transport wie Kommunikation, analysieren unsere Daten, erkennen uns Menschen und machen unsere Häuser "smart". Seit Neuestem unterrichten sich Codes sogar selber, man nennt das "Deep Learning", "tiefes Lernen". Im Oktober hat sich die künstliche Intelligenz "Alpha Go Zero" binnen drei Tagen das japanische Go-Spiel ganz allein aus dem Set der Regeln und aus unzähligen Matches gegen sich selber beigebracht - so gut, dass es die Vorgängerversion "Alpha Go", die den besten menschlichen Spieler im vergangenen Jahr geschlagen hat, in hundert Partien 100:0 besiegte.

Ja, die Codes, die in die Chips fahren, ermächtigen Materie dazu, intelligent zu werden, sie beleben Dinge durch Information. Damit ist eine gewaltige Schwelle überschritten. Dieser Schrift gehört die Welt. Sorry, Menschen!

Gleichzeitig wissen wir gar nicht genau, was sie sind. Sie sind ja nicht die einzelnen Zeilen, in denen sie niedergelegt und gespeichert werden. Der Code selbst bleibt ominös, bleibt immateriell hinter den Prozessen verborgen, die er anstößt, regelt und steuert. Was also ist Code? Dieser Maximalfrage widmet sich ein Projekt in Karlsruhe, das man kaum mehr eine "Ausstellung" nennen kann. Im dortigen "Zentrum für Kunst und Medien", dem ZKM, wurde mit "Open Codes" eine multiple Einrichtung namens "Wissensplattform" angelegt, die gleichzeitig Ausstellung, Labor, Workspace, Hörsaal, Snackbar, Symposion, Fortbildungseinrichtung, Lounge und Konferenzraum ist. Tischtennis spielen und kickern kann man dort auch noch. Ein gewaltiges Projekt also und der Versuch, die alles bestimmenden Codes mithilfe von Kunst und Wissenschaft endlich greifbar zu machen.

Zu den ältesten Codes überhaupt zählen Alphabete und Zahlensysteme. Sie dienen der Kommunikation, aber auch der Speicherung von Information. Schrift schafft Kultur. Immer schon. Doch die Karlsruher Langzeit-Installation, sie ist bei freiem Eintritt noch bis August nächsten Jahres zu besuchen, widmet sich gerade den historisch wie kulturell variablen, begrifflichen Zuweisungen von Codes.

Präsentiert werden Kunstwerke und wissenschaftliche Arbeiten, die sowohl auf analogen wie digitalen Codes basieren. Die Plattform gibt auch Raum, selbst Codes zu produzieren. Programmierer und Forscher sollen sich hier austauschen können. Für die Zusammenkünfte von Hackern wurde die schöne Bezeichnung: "Algorave" (Algorithmus + Rave) gefunden.

Forscher können jetzt die Informationen eines Films über Bakterien übertragen

Vom Morsecode über den genetischen Code geht es in Karlsruhe zu Strichcode und Binärcode - und sofort wieder zurück. Denn die Zeichen des Codes benötigen immer ein Medium, in dem sie formuliert werden, es muss aber nicht immer dasselbe sein. Sprache ist in Morsezeichen überführbar, die als Ton- oder Lichtsignale übertragen werden können. In "Open Codes" ist die Arbeit "Rhythm of Shapes" von Chikashi Miyama zu sehen und zu hören, in der Digital-Fotografien wie Partituren eingesetzt und "verklanglicht" werden. Um die Gestalt- und Ortlosigkeit des Codes zu demonstrieren, der ja nur im Moment seiner Aktualisierung wahrnehmbar ist, lenkt die "Narzisstische Maschine" von Michael Bielicky und Kamila B. Richter den Blick zurück auf den wahrnehmenden Betrachter. Dessen digitales Abbild wird algorithmisch multipliziert, bis es sich in einer Farb-Abstraktion wie im Nichts auflöst. Narziss im Codeschlund.

Unlängst erst haben Forscher von der Harvard Medical School in Boston in den genetischen Code von Bakterien die digitale Information sowohl eines Schwarzweiß-Fotos als auch einer historischen Filmsequenz einbringen und über Kleinsttierchen-Generationen hinweg übertragen können. Gilt für den unendlich und verlustfrei kopierbaren Computer-Code jetzt auch, was für den genetischen Code gilt: Er wird von Träger zu Träger kopiert, überlebt sie alle und ist darum - unsterblich?

Natürlich ist das alles keine leichte Denkkost. Die mehr als 200 Objekte und Installationen aus Kunst und Wissenschaft, die in Karlsruhe gezeigt werden, geben keine schnellen Antworten, sie wollen studiert werden, nicht bloß betrachtet.

Es sieht daher nur wie Kitschgewitter aus, wenn sich der dekadente Kronlüster aus buntem Muranoglas von Cerith Wyn Evans durch ein Kapitel aus einem Standardwerk zur Astrofotografie morst. Das ist - sicher - versnobte Disco. Einerseits. Aber es ist auch ein quasi-symbiotisches Werk aus Code, Computer, Buchtext und dem Licht des Kronleuchters. Und darum entspricht das Werk vielen uneindeutigen, ins Transzendente zielenden Arbeiten, die den ZKM-Leiter Peter Weibel anziehen wie Hacker die Bitcoins (auch an dieser Digitalwährung wird hier in einer Ecke gearbeitet). Direktor Weibel ist ein mathematischer Ästhet, ein Mann, der schneller denkt (und redet), als Quelltext von der Maschine gelesen wird, dem die Theoreme der abendländischen Philosophie, zeitgenössische wie klassische, immer neu zu schillernden Gedankenmosaiken zusammenfallen. Der, mit anderen Worten, selber wie von Explosions-Code erleuchtet erscheint. "Gott ist der erste Programmierer. Er erschuf den Code", sagt Weibel etwa beim Wuseln durch das Digital-Areal und dann: "Der Mensch ist nur ein lästiges Peripheriegerät." Das sagt er einfach so.

Mit Weibel durch das Karlsruher Arrangement zu flanieren, ist ein Parforce-Marsch durch Mathematik, Algorithmus und etwa die "Philosophiae Naturalis Principia Mathematica" eines Isaac Newton aus dem Jahr 1686. Alles ist hier vertreten, im Newton kann man virtuell blättern. Man erlebt aber auch ohne Weibel ein Assoziationsgewitter, das alle kognitiven Sphären zwischen René Magrittes Bild "La trahison des images" ("ceci n'est pas une pipe") aus dem Jahr 1929 bis zum aktuellen 3-D-Druck ausleuchtet. Hier stößt man dann auf den wirklich fundamentalen Wandel in den Semiologien der alten und neuen Codes, zwischen dem Gemälde und dem computergesteuerten Druck: In der analogen Welt existierte keine Möglichkeit, aus einem Zeichen sein Bezeichnetes zu machen, eine reale Pfeife war eben nicht eine gemalte Pfeife, wie Magritte darlegte. Die Digitalisierung hingegen vermag mit dem 3D-Druck, Daten in tatsächliche Dinge zu verwandeln. So kann man in der Arbeit von Morehshin Allahyari die erst codierten, dann dreidimensional ausgedruckten Rekonstruktionen von Kunst-Artefakten aus der antiken Stadt Hatra wieder bewundern, die der IS 2015 zerstört hatte. Damit - Tusch und Trommelwirbel! - ist das Zeichen zu seinem Bezeichneten geworden. Aus Code wurde Ding. Das dürfte Grübelstoff genug für Semiotikseminare geben.

Hier ist sogar die Tapete Code, und zwar für den Raum, in dem man gerade sitzt

Dass aber auch wir Biomaterial-Menschen inzwischen in diversen Codes aufgehen, belegt die Arbeit "You:R:Code" von Bernd Lintermann, die den Besucher wie einen "Rite de Passage" gleich am Eingang in Empfang nimmt. Lintermann zeigt den Eintretenden in der Stufen-Transformation zu seinem Digitalschatten: Aus dem Spiegel-Abbild, in dem er sich noch erkennt, wird er mit jeder Bildstation mehr und mehr in einen reinen Datenkörper überführt. Man erfährt sich als genetischen Code, dann in Gestalt eines Strichcodes, in dem kaum mehr als eine Streifenaura übrig bleibt. Dass wir "Code sind", wie der Titel dieser Arbeit sagt, meint also nicht nur unsere genetische Verfasstheit, sondern auch unseren Status als Datensatz in den diversen digitalen Umgangsformen. Für die Betreiber der großen Netzwerke etwa, die uns anhand unserer elektronischen Spuren identifizieren und kein "Abbild" von uns mehr benötigen.

"In Simulationen ist das Zeichen ununterscheidbar von der Realität." Nein, das ist diesmal kein Satz von Peter Weibel, er stammt vom französischen Philosophen Jean Baudrillard, dem die Szenerie sicherlich gut gefallen hätte. Das Zitat findet sich eingewebt in einen drei mal viereinhalb Meter großen Wandteppich, der eine Szene aus einem Computerspiel, einem Shooter, darstellt. Das Zeichen wird Realität, nicht nur in Simulationen, lehrt die Schau.

Nein, ihre Arrangements formen sich nicht zur beschaulichen Bildungs-Exkursion nach Digitalien. Das wollen sie auch gar nicht. Sie bilden eine Tour d'Horizon zu Codes in ihren vielgestaltigen Ausprägungen. Doch gerade so will "Open Codes" von der Vorstellung freimachen, dass die Ungreifbarkeit von Code auch seine Unbegreifbarkeit bedeutet. Die Welt ist nicht mehr nur belegt durch die Widerständigkeit der Dinge. Sie ist kodiert. Wie unglaublich vielfältig diese Codes ausfallen, belegt schon die umfangreiche Web-Präsenz zur Schau: open-codes.zkm.de.

Irgendwann sitzt man fix und fertig in einer harmlosen Sitzecke, betrachtet deren wirre Wanddekoration voller Buchstaben, Zahlen und Zeichen und denkt sich: Gottseidank, hier ist endlich mal nur Kunst! Dann aber wird man gewahr, dass diese Wanddeko der Quellcode für den Raum ist, in dem man sich gerade befindet, eine Arbeit von Karin Sander. Denn selbstverständlich werden auch Architekturentwürfe heute mit Computerprogrammen erzeugt, werden die Räume simuliert, bevor sie real gebaut werden. Würde man diesen "Tapeten"-Code also wieder in einen Computer einspeisen, dann würde er den identischen Raum simulieren, sogar die Farbe der Sitzkissen wäre dieselbe. Have mercy on us, Code! Doch wo bist du nur, der du uns geschluckt hast?

Open Codes. Leben in digitalen Welten. ZKM, Karlsruhe. Bis 5. August. Eintritt frei.

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