Ausstellung:Die schmutzigsten Helden des Kinos

Eine Turiner Ausstellung widmet sich dem Neorealismus im italienischen Film, mit dem einst der Faschismus aufgearbeitet wurde.

Von Thomas Steinfeld

Ein Plakat nur hängt der Held des italienischen Films "Fahrraddiebe" aus dem Jahr 1948 auf. Ein Plakat nur, dann wird er zurückgeworfen in seine existenzielle Not, weil er kein Fahrrad besitzt und es ohne Fahrrad keine Arbeit gibt. Dieses eine Plakat zeigt einen amerikanischen Traum: Rita Hayworth im Abendkleid, wie sie den rechten Arm hinter den Kopf legt, damit ihr Körper eine einzige, laszive Spannungslinie bildet und die Brust angemessen hervorsticht.

"Neorealismus" nennt sich der Stil jenes Films von Vittorio De Sica, und "Neorealismus" heißt die dazugehörige Epoche, zu deren prominentesten Vertretern er gehört. Realistisch jedoch ist an diesem beinahe aufdringlichen Gegenüber von italienischem Lumpenproletariat und einem Illusionismus aus Hollywood wenig. "Am Ende verschwinden Vater und Sohn in der Menge", fasst der Philosoph Gustav Falke den Film in einem Aufsatz für die "Zeitschrift für Ideengeschichte" (Sommer 2013) zusammen, "ein Film, der simple Thesen bebildert und mit Affekten beklebt".

Die Ausstellungshalle wäre der ideale Drehort für einen "Batman"-Film

In der Mole Antonelliana, dem bizarren Turmhaus aus dem späten 19. Jahrhundert, das ganz Turin überragt, ist gegenwärtig eine Ausstellung zum neorealistischen Kino zu sehen. Das ist auf der einen Seite nicht verwunderlich, weil dieser Turm das italienische Filmmuseum birgt. Auf der andere Seite aber besteht das Innere dieses Hauses aus einer gewaltigen, viele Stockwerke hohen Halle, die vielleicht ein idealer Drehort für eine neugotische "Batman"-Verfilmung wäre. Aber die Standfotos aus Luchino Viscontis Film "La terra trema" ("Die Erde bebt", 1948) wirken hier, als hätte jemand ein verschwitztes altes Unterhemd in die Auslage eines Geschäfts für teure Markenkleidung gehängt. Zudem sind die Exponate - zumeist Standbilder, Manuskripte und Briefe, an einigen Stellen auch Videoprojektionen - entlang einer Galerie untergebracht, die sich in luftiger Höhe an der Innenwand der Halle nach oben schraubt, einer schwindelnden Höhe entgegen, die in nichts (oder in einer verschlossenen Stahltür) besteht. Unten, auf dem Parterre der Halle, sind die reich verzierten Eingänge in die Räume zu sehen, in denen die Geschichte des Horrorfilms oder die Masken aus "Star Wars" zu sehen sind. Hier oben aber gibt es das Wahre in seiner illusionären Form zu sehen: "lo splendore del vero", "den schönen Schein des Wahren".

Das Repertoire des italienischen Neorealismus ist klein. Es besteht im Wesentlichen aus ein paar Dutzend Filmen, die zwischen den frühen Vierziger- und frühen Fünfzigerjahren entstanden. Es beginnt vielleicht mit Luchino Viscontis "Ossessione" ("Besessenheit", 1943) und hört möglicherweise mit Roberto Rossellinis "Viaggio in Italia" ("Liebe ist stärker", 1954) schon wieder auf. Dazwischen liegen die einfachen, bitteren, ergreifenden Geschichten, wie sie Roberto Rossellini in "Roma, città aperta" ("Rom, offene Stadt, 1945), Michelangelo Antonioni in "Gente del Po" ("Die Leute vom Po", 1947) oder Giuseppe De Santis in "Riso amaro" ("Bitterer Reis", 1949) erzählen. Gedreht mit Laiendarstellen, in langen Einstellungen und in Echtzeit, mit Handlungen, die nicht abgeschlossen sein müssen, sondern sich irgendwo verlieren dürfen. Das alles, versichert der Regisseur Giuseppe de Santis im Katalogbuch zur Ausstellung, hätte es ohne den Faschismus nicht gegeben: Es sei damals um die "unterdrückte und eingesperrte Realität gegangen, die von den Leinwänden des Regimes so sorgfältig ferngehalten worden war." Lange, führt er weiter aus, habe das Publikum diese hässlichen, schmutzigen und gemeinen Helden aber nicht ertragen.

Roberto Rossellini sagte zu "Roma, città aperta", dem traurigsten aller neorealistischen Filme: "Wir betrachteten die Ruinen, aus denen wir staubbedeckt hervorkamen. Aus unseren Herzen drang der ernste und tiefe Wunsch, einander zu erkennen." In diesem Bekenntnis zur schlichtesten Moral verbirgt sich die einzig mögliche Auflösung des Widerspruchs, dass der Neorealismus zwar im Stil realistisch ist, seine Geschichten aber umformen muss, damit sie realistisch wirken: Die Auflösung liegt in einer Art moralischer Subversion, die ein Versprechen in die Welt setzte: dass man sich in einer harten und unnachgiebigen Welt auf die Seite eines Einzelnen schlagen könnte, der mit ihr ringt und ständig in Gefahr ist, an ihr zugrundezugehen. Der Neorealismus - das ist, wie Gustav Falke erklärt, der Glaube an eine "gesteigerte Möglichkeit von Einfühlung, die im selben Zuge die Identifikation bricht."

Beliebig oft wiederholen lässt sich eine solche Steigerung des Mitleidens gewiss nicht: Der entsprechende Realismus verwandelt sich schnell in Rhetorik. Insofern gibt es sogar einen guten, nämlich selbst allegorischen Grund dafür, dass eine Ausstellungen zum Neorealismus im Film über eine lange Rampe an einen hohen Ort führt, um vor einer Stahltür zu enden.

Cinema Neorealista. Lo splendore del vero nell'Italia del dopoguerra. Turin, Mole Antonelliana. Bis 29. November. Der Katalog ist auf Italienisch und auf Englisch verfasst und kostet 29 Euro.

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