Wenn Mehrdeutigkeit die größte Stärke eines Bildes ist, dann gehören William Egglestons Fotos zu den stärksten Bildern, die sich denken lassen. Die Fensterzeile, halb verdeckt vom Schlagschatten eines anderen Gebäudes, die nackte Glühbirne an blutroter Zimmerdecke, das fahl leuchtende Gelb eines zerschlissenen Sofas im Freien; die Babypuppen-Ansammlung auf einer Cadillac-Kühlerhaube: Ohne den ebenso herausfordernd banalen wie schwer fassbaren Reiz dieses sinistren Bilduniversums wäre das Werk Nan Goldins oder Jeff Walls ebenso wenig denkbar wie die Filmästhetik eines David Lynch.
Doch so sehr Eggleston, der mittlerweile 77-jährige, rebellierende Sprössling amerikanischer Südstaaten-Aristokratie, als Archivar amerikanischer Un-Orte gefeiert wird, so wenig verbindet man seinen Namen mit Porträtfotografie. Umso erfreulicher, dass die Londoner National Portrait Gallery diesem Aspekt seines Schaffens jetzt eine Ausstellung mit einer Auswahl von rund 100 Bildern gewidmet hat. Sie zeigt Eggleston als Fotografen, der im Bestfalle wie im Vorbeigehen gleichermaßen hochdistanzierte und hochpersönliche Menschenbilder schafft.
Es ist heute, da die Kunst längst Teil des unablässigen Alltags-Bombardements mit grellsten Farben ist, kaum noch nachvollziehbar, was für einen Aufschrei Eggleston in den Siebzigerjahren mit seiner Verwendung von Farbfotografie auslöste. Zwar hatten andere Fotografen wie der Niederländer Ed van der Elsken schon früher mit Farbe gearbeitet. Aber Eggleston vollzog 1976 diesen Schritt mit seiner berühmten - und damals extrem umstrittenen - Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art als eine Art Fanal. Farbe, besonders die von Eggleston bevorzugte, satte, aber hochkomplexe kommerzielle Reliefdrucktechnik, war die Sprache, in der sich auch die Kunstfotografie von nun an würde äußern können.
"Es hat mich nie interessiert, ob ich einen Bluesmusiker oder eine Straßenecke aufnehme."
Tatsächlich war sein erstes "erfolgreiches Farbbild", wie er selbst sagt, ein Porträt. Es entstand 1965 in Memphis, Tennessee, Egglestons Heimatstadt und bis heute seine Hauptwirkungsstätte: Es ist die Seitenansicht eines jungen, leicht verschwitzten Mannes mit sorgsam gegelter Frisur, der Einkaufswagen zusammenschiebt. Seitlich bescheint ihn die spätabendliche Sonne und wirft seinen Schattenriss an die Wand des Supermarktes in der linken oberen Bildecke. Die konzentrierte Versunkenheit des Jungen in seine Arbeit zieht den Blick so sehr auf sich, dass man leicht die Frau mit Sonnenbrille im Hintergrund übersieht. Verborgen in Unschärfe, wirkt sie im gleichen Maße geheimnisvoll, wie der Supermarktangestellte als konkret erscheint - ein Doppelporträt. Es bleibt dem Betrachter überlassen, auf welcher Ebene er diese stets titellosen Tableaus wahrnimmt. Der Fotograf hat jedenfalls kein Interesse daran, ihm irgendwie zu helfen.
Da ist beispielsweise der ältere Mann mit schwarzer Hornbrille im dunkelroten Hemd, der, auf einem Bett sitzend, einen Revolver locker in der Rechten hält ("Ohne Titel, circa 1969 - 1970"). Das auf symbolische Deutungen hin konditionierte Auge sucht sofort nach Signifikanten: Die Waffe des Mannes ruht auf einem Quilt am Fußende des Bettes - kann man hier etwas über die gefährliche häusliche Ungezwungenheit des amerikanischen Umgangs mit Waffen lernen? Ist der Mann eine Bedrohung für uns oder für sich? Solch didaktischen Lesarten hat Eggleston selbst immer eine Absage erteilt. Es mag helfen zu erfahren, dass der alte Mann Charles Boykin hieß, Sheriff der Gemeinde Morton, Mississippi, war, und Eggleston auf dessen nächtlichen fotografischen Streifzügen gelegentlich bewaffnetes Geleit gab. Es genügt aber auch, sich allein der Komposition zu widmen, dem schwarzen Hintergrund, der dominanten Diagonale des Bettes, dem Aufleuchten des Gesichts in der Mitte des oberen Bilddrittels.
Die Spannung zwischen spontaner Interpretation eines angedeuteten Bildnarrativs und der wahren Hintergrundgeschichte ist in manchen Fällen größer als in anderen. So ist das soziale Gefälle zwischen dem weißen und dem schwarzen Mann in einem von Egglestons berühmtesten Bildern klar zu erkennen, auch ohne zu wissen, dass es sich dabei um Adyn Schuyler, den Onkel des Fotografen, und das Familien-Faktotum Jasper Staples handelt. Staples steht einen Schritt hinter seinem Arbeitgeber und nimmt unbewusst dessen Haltung an, die Hände in den Taschen, die Schultern leicht sackend - das Verhältnis dieser beiden bedarf keiner Erläuterung.
Deutlich schwerer zu lesen, ist eine 1973 entstandene Arbeit, die direkt aus einem Lynch-Film stammen könnte: Ein rothaariges Mädchen in geblümtem Kleid, hingegossen auf eine Rasenfläche. Nur die Kamera, die sie in der Linken hält, und ihr Gesicht sind scharf, der Rest des Bildes verschwimmt in einem optischen Schleier. Man könnte hier eine vage Sexualisierung herauslesen - das Modell ist Marcia Hare, eine berühmte Stadtschönheit aus der libertinistischen Post-Hippie-Szene von Memphis. Doch am ehesten wird man dem Bild wohl gerecht, wenn man die technische Souveränität bewundert, mit der Eggleston durch seinen punktuellen Fokus den Blick lenkt, und zugleich eine seltsam ätherische Atmosphäre schafft.
In geradezu aggressiver Weise hat William Eggleston immer wieder darauf bestanden, wie viel Distanz zwischen ihm und den Objekten seiner Fotos liege - wie wenig Verbindung er zu Menschen und ihren Problemen empfinde. "Ich wollte immer Bilder machen, die für sich selbst stehen, unabhängig davon, was sie abbilden", hat er gesagt. "Es hat mich noch nie interessiert, ob ich einen Bluesmusiker oder eine Straßenecke aufnehme." Daher fotografiere er Menschen genauso wie einen Parkplatz. Diese Haltung macht seine Arbeiten hierarchielos: Es ist gleichgültig, ob er den Musiker Joe Strummer in Lederjacke und Strohhut vors Objekt nimmt, einen anonymen Mann beim Verzehr eines Hamburgers, oder den Schauspieler Dennis Hopper am Steuer eines Autos. Der flaschengrüne Kunstlederbezug einer Bank, der den unteren Rand eines Bildes begrenzt, ist als Strukturelement gleichberechtigt mit dem Hinterkopf einer Dame, deren Frisur sich darüber erhebt. Für den Fotografen ist entscheidend, dass sie in dieser Form, in diesem Augenblick, gemeinsam existieren.
Es ist eine gnadenlose Haltung, die auch vor Freunden und Familie nicht Halt macht. Eggleston drückt auf den Auslöser, wenn seine Freundin Leigh Haizlip ihn in Tränen aufgelöst anstarrt, und wenn seine Frau Rosa ermüdet seinem Sohn Winston die Brust gibt. William Egglestons Blick ist dabei nie dokumentarisch, er geriert sich als menschenfern. Doch wie die Schau beweist, versetzt gerade dieses ostentative Desinteresse ihn oft in die Lage, den Menschen rückhaltlos nahezukommen.
William Eggleston: Portraits in der National Portrait Gallery, London, bis 23. Oktober. Info: www.npg.org.uk, Katalog: 29,95 Pfund.