Ars Electronica 2009:Fabelhafte Kreaturen

Die Ausstellungen zeigen vakuumverpackte Körper, zwillingshafte Roboter und humanoide Insektenskelette. Zwischen Arche Noah und Apokalypse sucht die Ars Electronica nach der menschlichen Natur.

Bernd Graff

Irgendetwas ist anders. Kaum spürbar. Doch da brodelt etwas nervös im Untergrund, flirrt in den Straßen, vibriert in den Gassen und dampft aus den Kanälen. Linz, die oberösterreichische Landeshauptsstadt an der Donau, hat sich verändert. Es zuckt, kaum merklich, in ihrer Textur.

Als sei die Stadt nicht mehr von hier, nicht mehr von dieser Welt, und die Wesen, die sie bewohnen, Menschen, Tiere, Kreaturen, scheinen aus Raum und Zeit gefallen. Saurier etwa stolpern durch die Innenstadt, blasse Gesellen mit wackligen Köpfen. Dazu Gnus und Antilopen, hier mal ein Elefant, dort ein Strauß, auch eine Gazelle. Alle seltsam bleich und mit erloschenen Augen. Ihre Schritte erschüttern die knöchernen Körper derart, dass man um ihren Zerfall fürchten muss.

An anderer Stelle bewacht eine mythische Sphinx ein infernalisches Weinfest. Die halbe Innenstadt ergötzt sich zu Probierpreisen, wer ein Glas halten kann, ist auf den Beinen. Streng bewacht von der Holz-Sphinx eines unbekannten Kunsthandwerkers, der das stumme Fabelwesen mit einem derart pompösen Busen ausgestattet hat, dass Wälder dafür sterben mussten.

Alles geschieht gleichzeitig und nebeneinander, die Saurier, das Weinfest, die Party und die Menetekel des Untergangs. Linz muss im Spätsommer des Jahres 2009 am Abgrund eines kosmischen schwarzen Loches die falsche Galaxien-Ausfahrt genommen haben und aus der Kurve geflogen sein. Seither flottiert es: losgelöst, schwerelos, ungebunden - in Vergangenheit und Zukunft zugleich.

Gut, Linz verändert sich mit jedem Herbst. Wo heute Saurier röcheln, krabbelten vor wenigen Jahren auch die "Strandbeests", die kinetischen Skulpturen des Holländers Theo Jansen. Denn seit 30 Jahren findet an den Gestaden der Donau die Ars Electronica statt, eine Veranstaltung mit so umfassendem gesellschaftlich-historischem wie prognostischem Anspruch und so weit ausladender territorialer Geste, dass man sie weder als Medien-Kunstausstellung noch als Tüftlertreffen einer Nerd-Internationale hinreichend charakterisiert.

Die Ars Electronica ist mit ihren vielen verstreuten Spielorten und ihrem die Landeshauptstadt füllenden Rundumprogramm an Ausstellung, Kongressen, erstklassig besetzten Foren und Symposien, technischen Innovationen wie Sensationen schon immer so etwas wie ein flächendeckendes Gesamtkunstwerk im Hier und Jetzt gewesen: Ebenso visionär wie verrückt, ebenso pragmatisch wie programmatisch in ihrer Konzeption.

Ihre Themensetzungen waren stets drängend. Sie berührten akute Problemstellungen wie die unabschließbaren Großen Fragen: 1989 ging es um (nicht-technische) "Systeme und Netzwerke", 1995 um den "Mythos Information", 1996 um die "Zukunft der Evolution", 2002 um die "Globalen Konflikte" und zur Jahrtausendwende wälzte man die Frage, ob Sex noch möglich sei - und warum überhaupt.

Die diesjährige Ars Electronica kümmert sich um auch nicht weniger als die "Human Nature". Und die Frage nach dem Sex wird heuer mit einem batterielosen Vibrator beantwortet, den die irische Firma "Caden Enterprises" als erstes nachhaltiges Sex Toy entwickelt hat. Es heißt "Earth Angel", wird in der Linzer Ausstellung gezeigt, und wer eine Pfeffermühle benutzen kann, weiß, wie das Ding funktioniert.

Linz also wird seit einer Menschengeneration mindestens einmal im Jahr mit Quatsch, aber auch mit Gewicht und Anspruch ästhetisch-intellektueller Gewaltakte konfrontiert, traktiert, malträtiert. Und Linz spielt stets schnittig mit.

In diesem Jahr ist man zudem noch Europäische Kulturhauptstadt. Am Donaustrand wird die "Flut" des Theater- und Festivalleiters Airan Berg als "Klangwolke" gegeben, in der - wie der Programmtext ausweist - "fabelhafte Kreaturen nächtens durch die Stadt ziehen und sie in ein wundersames Biotop verwandeln. Propheten verkünden Schreckensvisionen. Abends wird das Ufer der Donau zum Schauplatz eines Dramas zwischen Untergang und Rettung."

Das ist eine bedeutende Untertreibung. Denn Biotop, Prophetie und Drama bedürfen einiger Lautsprecherstelen von mindestens U2-Ausmaß, also eines handelsüblichen Apokalypsen-Klangteppichs, und eben jene Saurier und Savannentiere, an denen, blass wie sie sind, nichts mehr zu retten scheint.

So kommt wohl alles zusammen. Und vielleicht sind ja darum die Sicherungen des Linzer Raumzeitkontinuums durchgeknallt. Die Stadt weiß offenbar nicht mehr, ob es Richtung Arche Noah oder Richtung Apokalypse geht, nach vorne auf dem Zeitstrahl oder darauf zurück. "Human Nature"? Wer lebt denn noch? Und: Wer lebt denn noch alles? Antwortlose Fragen. So begeht man einen Karneval ohne Masken, die heitere Stretta vor ungewissem Finale - ein Memento Mori als Stadtlandschaft.

Mensch, Tier und Maschine

Im Foyer des Brucknerhauses liegen die Skelette von verendeten Insekten. Das ist eigenartig. Denn Insekten besitzen keine Skelette - schon gar nicht in Mammutdimensionen. Doch hier liegen ihre bleichen Knochen in weißem Sand, meterlange, oft mannshohe Fossilien. Der Chinese Shen Shaomin, Jahrgang 1956, hat diese "Unknown Creatures" erschaffen.

Bei näherem Hinsehen erkennt man, dass die theatralisch nach vorn gesackte Gottesanbeterin und ihr bleiches Junges wohl Menschenschädel haben. Nebenan, der verrottete Viel-Gliederfüßer "Multiped", er muss vor seinem Ableben heftig mit den Armen gerudert haben - menschenartigen Armen mit gichtigen Händen.

Was müssen das für Tiermenschen gewesen sein, deren Skelette hier liegen? In welchem Zeitalter haben sie gelebt? Vor unserer Zeit? Nach unserer? Und in welchem Zeitalter befinden dann wir uns, die Archäologen dieser Überreste? Im Anthropozän, jenem von dem Nobelpreisträger Paul Crutzen diagnostizierten Zeitalter, in dem der Mensch vollständig die Herrschaft über die Natur übernommen hat, auch über seine eigene? Oder schon danach, nachdem alle Schlachten geschlagen und Homo Sapiens doch noch verloren hat?

Die tote Gottesanbeterin hatte, soweit sich das feststellen lässt, eine demütige, flehende Körperhaltung eingenommen, als sie ihr Leben aushauchte. Was muss ihr zuletzt vor die Fühler gekommen sein, das noch beängstigender war als sie? Man kann darum gar nicht entscheiden, welche Katastrophe die größere war: Die ihres Ablebens oder die ihrer Zeugung?

Da geht es den lemurenhaften Kerlchen, die gleich daneben in Klarsichtboxen wie in einem Supermarkt-Regal zum Verkauf hängen, wohl besser. Jedenfalls zeigen ihre blinkenden Bio-Monitore an, wie viel Leben noch oder schon in ihnen steckt, quasi die Übersetzung des Mindesthaltbarkeitsdatums in ein Lebewesen. Manche sehen indes schon so schrundig aus, dass man sie sofort reklamieren möchte.

Darüber eine Farbcodierung, die Auskunft gibt über den zu erwartenden Charakter der Föten-Racker: Soll es diesmal was Spirituelles werden, etwas Wagemutiges oder was Lustiges? Ab und an zuckt eines Wesen in seinem Klarsichtsarg oder es macht ein Bäuerchen.

So süß - und so abstoßend. Der 1982 geborene Kanadier Adam Brandejs hat diesen Haustier-Albtraum aus den Genlaboren der Zukunft geschaffen wie auch jenen autonom zuckenden Turnschuh, den "Animatronic Flesh Shoe", der wie aus Menschenhaut gefertigt scheint.

Ich ist ein Wanderer

Tatsächlich lebendige Menschen werden vom belgischen Künstler Lawrence Malstaf (1972) vakuumverpackt. Sie sind eingespannt zwischen zwei durchsichtige PVC-Folien, nur ausgestattet mit einer Art Schnorchel für die Atmung. Dann saugen sich die Plastikhäute um ihre Körper, die senkrecht von der Decke hängen. Eine Allegorie auf unsere Verletzlichkeit will der Künstler darin erkannt sehen. Eine Allegorie auf Scheibenkäse wäre auch passend.

Malstaf, der klaustrophobische Erfahrungsräume inszeniert, hat übrigens für "Nemo Observatorium" eine Nica, den Preis der Ars Electronica, bekommen. Das Observatorium besteht aus einem Sessel inmitten eines Zylinders, in dem Ventilatoren Styroporkügelchen über die Innenwand wirbeln. Der Beobachter hat also Platz genommen im Auge eines Sturms.

Diese seltsame Ruhe inmitten eines Orkans meint man auch zu verspüren, wenn man Professor Hiroshi Ishiguro von der japanischen Osaka University im Beisein seines Begleiters sieht. Denn der Begleiter ist ein Geminoid, ein auf zwillingshaftes Aussehen und Verhalten optimierter Roboter. Der Geminoid sieht also aus wie der Professor, spricht, blinzelt und atmet wie sein Schöpfer. Ich ist ein Wanderer.

Nein, noch ist diese Blade-Runner-Fantasie nicht perfekt, denn Ishiguro - oder ein anderer - steuert den Roboter fern: Die Androiden-Bewegungen werden per Computer übertragen, ebenso die akustischen, taktilen und optischen Reize, die dem Doppelgänger widerfahren. Ishiguro sieht so - auch über weite Entfernungen hinweg - durch Maschinenaugen, hört die Maschinentöne und erlebt über Sensoren, was dem Stellvertreter über Haut und Leber läuft.

Wenn man Menschen dann im Gespräch mit der Maschine sieht, hält man die Luft an. Und zwar deswegen, weil die Menschen mit der Elektronik plaudern wie mit Freund oder Beichtvater. Ishiguro selber wirkt im Zusammensein mit seinem Geschöpf wie die Hälfte eines bestens eingespielten Ehepaares.

"Kannst du mir ein Lächeln schenken", fragt ein Besucher den etwas bedächtigen Zwilling. Der Roboter antwortet erst: "Ich glaube nicht, dass ich das jetzt möchte." "Klar möchtest Du", schaltet sich Vadder Ishiguro ein. "Gib dir etwas Mühe!" Und siehe: Das Silikon lächelt!

In einer Vorlesung zum Geminoiden meint man dann eine gewisse erkenntnisgesättigte Ratlosigkeit, fast Zerknirschung beim Forscher Ishiguro feststellen zu können. Er wolle nicht die Robotic neu erfinden, sondern den Menschen verstehen. Und da gelte: Je menschlicher der Roboter agiert, umso glaubwürdiger erscheine er.

Hält der Mensch die Maschine für seinesgleichen, dann ist sie es. Doch je menschlicher die Maschinen werden, umso schwieriger werde es, sie zu bauen. Wann aber sind sie glaubwürdig? Denn was ist der Mensch, was zeichnet menschliche Präsenz aus, was ist und wo sitzt der Geist des Menschen? "Ich weiß es nicht" bilanziert der Professor, "ich weiß nicht, was mich ausmacht, an welcher Stelle meines Körpers mein Geist sitzt."

Er setze den ferngesteuerten Vertreter schon für Arbeits-Meetings ein, da agiere die Puppe auch ganz passabel, das ja. "Wenn man die Zwecke reduziert, kann man Geist simulieren."

Was er aber nicht verstehe: Er, der arbeitnehmende Mensch, bekomme nie Honorar, wenn er seinen Vertreter schickt. Dabei sei er doch anwesend - jedenfalls so gut wie. Es ist dann der großartig aufgeräumte Friedrich Kittler, der mit seinem Vortrag diesen Maschinenmenschenpark in die europäische Geistesgeschichte einsortiert: Hephaistos, der gelähmte Schmiedegott, schuf die ersten Automatenmädchen als Dienerinnen, Mägde ohne Sprache.

Als die Götter fielen, ängstigte ein animierter Lehmklumpen, der Golem, die Menschen. Auch Goethe - "Die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, Werd ich nun nicht los. In die Ecke, Besen! Besen! Seids gewesen!" - fürchtete die animierten Werkzeuge. "Heute sind wir erschaffende Mütter", sagt Kittler, "Geburtshelfer, die unsere Computer heranwachsen sehen. Die Technik lernt, die Natur wird wissend." Doch noch fehle ihr das, was den sich selbst erkennenden Menschen zur Selbsterkenntnis auszeichnet: der Logos.

Am Abend dann das Saurieroratorium am Fluss. Die Tiere auf dem Weg zur Arche. Eine Frauenstimme raunt: "Der Mensch ist das einzige Tier, das nicht Tier sein will. Dabei spüren die Tiere die Katastrophen immer zuerst. Nur der Mensch will sie vergessen."

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