Arno Lustiger über Rettung:"Die SS-Wachen haben auch meinen Onkel erschossen"

Er war Kämpfer gegen die Nationalsozialisten, wurde verfolgt und ins KZ gesteckt. 40 Jahre lang schwieg Arno Lustiger, dann fing er an Bücher zu schreiben über Menschen, die sich gegen das Böse auflehnten. Ein Gespräch über die Freiheit zu wählen, vergessene Helden, und wie es sich anfühlt, wenn niemand glaubt.

Joachim Käppner

SZ: Herr Lustiger, die Menschen, über die Sie in Ihren Büchern schreiben, haben sich gegen das Böse gewehrt: Juden im spanischen Bürgerkrieg, jüdische Partisanen im besetzten Europa, jetzt die Retter - Männer und Frauen, die Juden vor dem Holocaust bewahrten. Es sind nicht nur berühmte Namen wie Oskar Schindler, sondern auch viele, die kaum jemand kennt. Schreiben Sie eigentlich immer über Helden?

"AUFBAU"-KULTURPREIS FÜR ARNO LUSTIGER

Arno Lustiger, hier bei der Verleihung des "Aufbau"-Kulturpreises 1999, will den vergessenen Helfern eine Stimme geben.

(Foto: DPA)

Arno Lustiger: Ja, das auch. Aber vor allem versuche ich, die weißen Flecken der Historiographie zu füllen. In meinem Buch erinnern meine Mitautoren und ich an die vielen Menschen, über die man zu wenig weiß und die nicht kollektiv geehrt werden: Jene, die Juden geholfen haben, dem Holocaust zu entkommen.

Wie viele sind es gewesen?

Das ist sehr schwer zu sagen. Jedenfalls viel mehr, als man glaubt. Allein in Berlin gab es Tausende Deutsche, die ihren jüdischen Mitbürgern halfen. In der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem sind nur 23 778 Helfer aus der ganzen Welt als ,Gerechte unter den Völkern' anerkannt.

Unter ihnen 495 Deutsche.

Aber das ist nur ein Bruchteil. Das spiegelt nicht die wirkliche Zahl wieder, es waren weit mehr Deutsche, die halfen. Für sie war das besonders schwierig, denn anders als die Bürger der besetzten Länder mussten sie gegen die eigene Regierung handeln, ohne Unterstützung nationaler Widerstandsgruppen wie in Dänemark oder Frankreich. Und sie hatten nach 1945 wenige Fürsprecher - weder in Deutschland noch außerhalb. Man hat sie nie angemessen geehrt.

Sie waren selbst Verfolgter, Kämpfer gegen die Nationalsozialisten und verdanken Ihr Leben mehreren Helfern.

Ja. Und dann habe ich 40 Jahre geschwiegen, keinen Ton gesagt.

Warum?

Dafür gab es viele Gründe. Einer davon war der Satz, den mir ein SS-Mann in Auschwitz-Blechhammer sagte. Es war ein junger Mann, der sich offenbar ziemlich gelangweilt hat auf den vielen Kilometern zur Zwangsarbeit. Der unterhielt sich ganz gern mit mir, einmal sagte er wie nebenbei: ,Du wirst nicht überleben. Aber solltest du es doch tun, wird dir niemand glauben.' Das hatte ich noch sehr lange Zeit im Kopf.

Aber Ihre Kinder werden Sie doch gefragt haben, wie Sie den Holocaust überlebten?

Ich habe sogar meine Kinder belogen. Sie fragten mich: Papa, was hast du da für eine Nummer in den Arm tätowiert? Aber da waren sie noch klein, und ich sagte: Ach, das ist nur meine Telefonnummer, da ich so vergesslich bin.

Und als sie größer wurden?

Da fragten sie nicht mehr. Sie hatten nämlich in der Schule gelernt, was die Auschwitz-Nummer bedeutete. Ich wollte meine Kinder davor beschützen, das zu erfahren, was ich mitgemacht hatte.

"Das Schweigen habe ich erst am 27. Januar 1985 gebrochen"

Hätte es ihnen nicht eher geholfen, den Vater besser zu verstehen?

Aufstand im Warschauer Ghetto - 65. Jahrestag

Der Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 ist der bekannteste Akt jüdischen Widerstandes gegen die Nationalsozialisten. Doch auch andernorts gab es zahlreiche Juden, die sich gegen den Terror auflehnten.

(Foto: dpa)

Sie waren noch so jung. Sie gingen in den Kindergarten, in die Schule. Ich wollte, dass sie frei sind von den Gedanken und der Vergangenheit des Vaters, dass sie einfach unbefangen mit ihren Schulfreunden spielen können. Später ist meine Tochter Gila von den Lehrern immer als Kind eines Überlebenden behandelt worden. Das hat sie sehr gestört.

Warum haben Sie denn geschwiegen, selbst als Sie hoffen konnten, man würde Ihnen glauben? Viele Überlebende haben das getan: nicht darüber zu sprechen.

Ich wusste oder glaubte, die Menschen meiner Generation in Deutschland würden das nicht wahrhaben wollen oder wegdrängen. Und ich wollte die Wunden auch vernarben lassen. Das Schweigen habe ich erst am 27. Januar 1985 gebrochen. Die Organisationen ,Zeichen der Hoffnung' und ,Pax Christi' haben dieses Jahrestages der Befreiung von Auschwitz durch einen Schweigemarsch gedacht. Sie fragten mich, ob ich mitmachen möchte. Und da ich ohnehin ein großer Schweiger war, hat mir diese Art des Gedenkens sehr zugesagt. Danach habe ich erst begonnen, darüber zu schreiben und zu sprechen. Ich wurde vom Bundestagspräsidenten eingeladen, im Bundestag die Gedenkrede am 27. Januar 2005 zu halten. Und in dieser Rede habe ich unter anderem beklagt, dass die deutschen Retter im eigenen Land kaum oder nicht genug geehrt werden.

Warum war das so?

Die meisten Deutschen, die Juden gerettet haben oder es versuchten, wurden erst geehrt, als sie schon lange tot waren. Ich glaube, es gibt einen ganz einfachen Grund: Diese Menschen haben den anderen den Spiegel vorgehalten . . .

. . . den Spiegel der Schuld.

Ja. Oder der Mitschuld. Es gab acht Millionen NSDAP-Mitglieder, dazu Angehörige der Parteiformationen wie SA und SS, des Staatsapparats, also Anhänger des Regimes. Dann gab es eine große Masse, viele Millionen, die sich einfach bemüht haben, ein einigermaßen normales Leben zu führen. Sie haben sich arrangiert - und viele sahen dann einfach zu oder weg. Es gab aber auch ländliche Gegenden, wo gar keine Juden lebten und diese Leute auch nichts von der Verfolgung mitbekamen. Aber in Berlin zum Beispiel wusste fast jeder Bescheid. Im Unterbewusstsein verkörperten die Judenretter eine sehr unangenehme Wahrheit: Selbst im Dritten Reich, im Polizeistaat Deutschland, gab es Spielräume, die man nutzen konnte. Aber Millionen haben sie nicht genutzt - und mit diesem Wissen mussten sie weiterleben.

Was waren denn die Motive der Retter?

Das ist sehr verschieden. Es gab, wie im Konzentrationslager Buchenwald, kommunistische Kapos, die jüdische Kinder gerettet haben. Das ist ein Faktum, auch wenn die DDR es später ideologisch so ausgeschlachtet hat, als sei die Hilfe für verfolgte Juden für Kommunisten ganz selbstverständlich gewesen. Das war sie natürlich nicht. Auf der anderen Seite gab es Unternehmer, die alles taten, um jüdische Angestellte und deren Familien zu retten; großartige Persönlichkeiten und Industrielle wie Berthold Beitz, Robert Bosch, Ernst Leitz und Eduard Schulte.

Sie hatten Spielräume.

Und sie haben sie konsequent und unter erheblichem Risiko genutzt. Andere in ihrer Position taten das nicht.

"Ich kritisiere auch die Gedenkstätte Jad Vaschem"

Arno Lustiger über Rettung: In der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem werden 23.778 Helfer aus der ganzen Welt als "Gerechte unter den Völkern" geehrt.

In der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem werden 23.778 Helfer aus der ganzen Welt als "Gerechte unter den Völkern" geehrt.

(Foto: AP)

Gibt es Geschichten von Rettern, die Sie besonders beeindruckt haben?

Aber ja. Ein ganz besonderer Mensch war eine Berliner Prostituierte. Ich nenne sie die Heilige Hedwig. Hedwig Porschütz, geboren 1900, hat wahre Wunder vollbracht, vor den Augen der Gestapo. Sie bewohnte eine Mansardenwohnung in der Alexanderstraße, eineinhalb Zimmer. Dort hat sie nacheinander viele Juden versteckt, die dann überlebten. Wenn die Freier anklopften, mussten ihre Schützlinge die Wohnung verlassen. Sie sammelte Lebensmittelmarken von ihren Klienten. Viele Soldaten auf Urlaub hatten solche Marken, die sie selber nicht brauchten. Damit kaufte sie Wurst, Speck, andere Lebensmittel und schickte diese in Paketen nach Theresienstadt, wohin viele der älteren Berliner Juden deportiert wurden und am Verhungern waren. Aber diejenigen, denen Hedwig Porschütz Pakete schickte, verhungerten nicht.

Was ist denn nach 1945 mit ihr passiert?

Im Oktober 1944 wurden die Lebensmittelkarten bei einer Polizeirazzia bei ihr entdeckt. Sie wurde zu 18 Monaten Zuchthaus verurteilt - aber über die Rettungsaktion fand die Polizei nichts heraus. Sie kam noch in ein Zwangsarbeiterlager, aber zum Glück nicht mehr lange. Denn im Mai 1945 war der Krieg zu Ende. Nun müsste man glauben, dass so eine Frau als Heldin des Widerstands geehrt werden würde.

Doch niemand kennt sie.

Sie selbst hat sich nicht getraut, etwas davon zu berichten. Erst 1956 stellte sie Anträge an den Senat, sie als Verfolgte des Naziregimes anzuerkennen. Das wurde abgelehnt, weil sie Prostituierte gewesen war. Ihr Mann und sie lebten in großer Armut. Das ist eine große Ungerechtigkeit. Es ist sehr verdienstvoll, dass Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, ihr Schicksal erforscht hat. An ihrem Haus wurde eine Gedenktafel angebracht. Es gibt übrigens kein Foto von ihr - sie ist eine Heldin ohne Bild.

Und auch von anderen Rettern haben wir, auch im übertragenen Sinne, oft kein Bild?

Nein. Oftmals wurden sie als Vaterlandsverräter beschimpft. Ihr Schicksal verrät viel Negatives über die deutsche Gesellschaft nach dem Krieg. Aber ich kritisiere auch die israelische Gedenkstätte Jad Vaschem, dass sie so wenige, und anderem auch keine jüdischen, Retter ausgezeichnet hat.

Gibt es eigentlich einen gemeinsamen Nenner? Etwas, was alle diese Retter verbindet?

Nein. Im besetzten Europa haben die Nazis jedes Land anders behandelt. Dänemark vergleichsweise mild; Polen und Russland mit äußerster Brutalität. Dann entstammen die Retter verschiedenen Schichten: Es gab die einfachen Menschen und Universitätsprofessoren. Und dann beginnt die Rettung aus der Situation heraus. Stellen wir uns eine Szene vor, die es nicht selten wirklich gab. Berlin, während des Krieges. Nachts klingelt es an der Tür. Draußen stehen zwei Juden, vielleicht Bekannte. Und sie sagen: Bitte helfen Sie uns. Können wir heute bei Ihnen übernachten? Was soll der Mann drinnen nun machen? In wenigen Sekunden fällt die Entscheidung, ja oder nein. Schlägt er die Tür zu, oder lässt er sie herein? Der gemeinsame Nenner ist: Bei den Rettern hat das Gute der menschlichen Natur gesiegt.

Diese Menschen haben die richtige Wahl getroffen. So wurden auch Mitglieder Ihrer Familie gerettet.

Meine kleine Cousine Renia wurde von einer verarmten Adelsfamilie in Nordpolen aufgenommen. Sie war erst vier Jahre alt. Ihre Beschützer haben sie so liebevoll behandelt, dass sie das polnische Ehepaar als ihre Eltern betrachtet hat. Nach dem Krieg kamen Tante Erna und Onkel Leon - beide haben die Lager überlebt -, um ihre Tochter abzuholen. Aber sie hat sie nicht mehr erkannt. Leon kehrte mehrmals zurück. Eines Tages sagte Renias Retterin, dass es besser wäre, wenn der Vater nicht zu ihnen käme; man könne sich doch in der Stadt treffen. Sie wollte nicht, dass die Nachbarn erfahren, dass ein jüdisches Kind gerettet wurde. Meine Cousine Nina war zehn Jahre alt, als sie von einer polnischen Arbeiterfamilie aufgenommen wurde. Die Kleine wirkte wie Scheherezade, denn sie las ihren analphabetischen Rettern jeden Tag die Zeitung vor. Sie hat bei ihnen überlebt.

"Ich dachte: Das sind die letzten Meter meines Lebens"

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Die bekannteste Liste mit Juden, denen geholfen wurde: die Liste Oskar Schindlers mit 801 Namen, die 2007 in einer Bücherei in Syndey gefunden wurde.

(Foto: AFP)

Aber nicht alle Fälle gingen so gut aus?

Meine blonde, blauäugige Tante Halina war mit ihrem vierjährigen Kind untergetaucht. Aber das Kind wurde sehr krank, und sie musste einen Arzt aufsuchen. Der polnische Arzt hat sie aufgrund der Beschneidung des Kindes denunziert. Sie wurden beide ermordet.

Die einen riskieren ihr Leben, um Leben zu retten. Die anderen schicken Kinder in den Tod.

Das sind die Spielräume, die es auch unter der Nazidiktatur gab - für Deutsche oder Polen, für Besatzer wie Besetzte. Ich möchte jenen eine Stimme geben, die diese Spielräume nutzten.

Sie selbst verdanken Ihr Leben unter anderem Ihrem Onkel?

Ja, Moritz Bittner aus Beuthen war ein deutscher Jude und Ehemann meiner Tante, Alicia. Er war blond, groß, er war ein wunderbarer Mann. Ihm verdanke ich selbst mein Überleben. Er hat mir geholfen, als ich in Auschwitz-Blechhammer krank wurde. Onkel Moritz hat mir ein Medikament verschafft, das mich wieder gesund gemacht hat. In der Häftlingshierarchie stand ich ganz unten, als ein Häftling mit der geringsten Lebenserwartung. Auch mein Vater starb dort. Onkel Moritz war mit mir im letzten Konzentrationslager, Langenstein im Harz. Wir gruben Stollen und schufteten in einem Tunnel, die Lebenserwartung dort lag bei vier bis fünf Wochen. Mitte April wurde das Lager aufgelöst, alle 4000 Häftlinge wurden auf Todesmärsche geschickt. Die SS-Wachen haben auch meinen Onkel, als einen von vielen, die das Tempo nicht halten konnten, erschossen.

Nur wenige Tage vor der Befreiung.

Es war furchtbar, und das alles so unmittelbar vor Kriegsende. Ich bin geflüchtet und habe mich in einer Gartenhütte versteckt, Zwei Volkssturmmänner mit Spürhunden fanden mich. In derselben Nacht wurden noch acht weitere flüchtige Häftlinge entdeckt. Es war schon Tag, als die Volkssturmmänner sagten: Es ist nicht mehr weit zu deiner Marschkolonne. Ich dachte: Das sind die letzten Meter meines Lebens. Aber ich wollte leben und bin fortgerannt. Sie haben geschossen und mich nicht getroffen.

Absichtlich nicht?

Ich werde es niemals erfahren: Waren es schlechte Schützen oder gute Menschen?

Was glauben Sie, Herr Lustiger?

Ich weiß es nicht. Ich war keine hundert Meter weg. Sie hätten mich eigentlich treffen müssen. Aber vielleicht wollten sie sich an einem der letzten Tage des Krieges die Hände nicht mit einem Mord beflecken. Bestraft hätte sie sicher niemand dafür. Kurz vor einem Wald bin ich zusammengebrochen. Am Ende haben mich amerikanische Panzersoldaten gefunden. So habe ich überlebt. Als ich wieder auf den Beinen war, habe ich mich sofort freiwillig gemeldet und wurde uniformierter und bewaffneter Armeedolmetscher, denn ich konnte gut Englisch. Nun konnte ich auf Seiten der Alliierten gegen meine Peiniger kämpfen - das war das Wichtigste vom Wichtigen für mich.

Wenn es nun selbst in Deutschland viel mehr Helfer der verfolgten Juden gab, als man eigentlich angenommen hatte: Wie reagiert das Publikum bei Ihren Veranstaltungen denn darauf?

Anerkennend. Aber auch sehr, sehr erstaunt.

Arno Lustiger wurde 1924 als Sohn einer jüdischen Familie im polnischen Bedzin geboren. Als die Nazis kamen und die Judenverfolgung begann, überlebte er mehrere Lager, darunter Auschwitz. Sein Vater und sein Bruder wurden von den Deutschen ermordet. Nach 1945 war er Mitbegründer der jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik und Textilunternehmer. Erst von 1985 an ging er an die Öffentlichkeit. Bekannt wurde er durch seine Kontroverse mit dem US-Historiker Raul Hilberg, der behauptet hatte, der jüdische Widerstand gegen die Nazis sei belanglos gewesen. Lustiger verfasste mehrere Bücher über Juden im Widerstand, jüdische Kämpfer gegen die Franco-Faschisten und, nun erschienen, "Rettungswiderstand" (Wallstein Verlag), über Judenretter während der NS-Zeit.

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