Architekturgeschichte:Macht der Geometrie

Architekturgeschichte: Vittorio Magnago Lampugnani: Die Stadt von der Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert. Urbane Entwürfe in Europa und Nordamerika. Wagenbach, Berlin 2017. 384 S., Abb., 78 Euro (Subskriptionspreis bis 31.12.17,dann 98 Euro). E-Book 72 Euro.

Vittorio Magnago Lampugnani: Die Stadt von der Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert. Urbane Entwürfe in Europa und Nordamerika. Wagenbach, Berlin 2017. 384 S., Abb., 78 Euro (Subskriptionspreis bis 31.12.17,dann 98 Euro). E-Book 72 Euro.

Vittorio Magnago Lampugnani erzählt von der großen Zeit der Stadtbaukunst und der Neuerfindung der Städte vom 15. bis zum 19. Jahrhundert.

Von Gottfried Knapp

Seiner zweibändigen monumentalen Ideen-, Bau- und Kulturgeschichte der Stadt im 20. Jahrhundert hat Vittorio Magnago Lampugnani nun eine Geschichte der Stadtbaukunst vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne folgen lassen. Sie beschreibt die klug oder kühn konzipierten, aber fast immer gewaltsamen Eingriffe in bestehende Strukturen, denen viele Metropolen Europas, einige Idealstädte, aber auch frühe Stadtgründungen auf dem amerikanischen Kontinent ihr spezifisches Aussehen verdanken.

Lampugnani hat also eine Geschichte der großen konzeptuellen Neuansätze auf dem Gebiet der Stadtgestaltung geschrieben. Die frühesten dieser fundamentalen Eingriffe hat er um 1300 in den toskanischen Metropolen Florenz und Siena entdeckt. In diesen beiden Stadtstaaten hatte nach Jahrzehnten hitziger Geschlechterkämpfe eine Zeit kommunalen Friedens begonnen, in der die Volksvertreter entscheidende Veränderungen im urbanen Kontext vornehmen konnten.

In Florenz hat die Regierung des Secondo Popolo innerhalb weniger Jahre nicht nur einen neuen Mauerring, eine riesige neue Kathedrale und einen neuen Regierungspalast - den Palazzo Vecchio - in Auftrag gegeben, sondern auch planmäßig neue Straßen und neue Plätze anlegen lassen. Innerhalb weniger Jahrzehnte sind also fast all die stadträumlichen Elemente geschaffen worden, die heute noch das Bild der Altstadt prägen.

In Siena hat die Regierung der Nove ein ähnlich ehrgeiziges Stadterneuerungsprogramm durchgesetzt. Als städtebauliche Wundertat kann jedenfalls die Anlage der riesigen Piazza del Campo auf einem steil abfallenden Gelände am unteren Ende der Stadt gefeiert werden. Voraussehend klug war auch die Entscheidung, den fälligen neuen Regierungssitz, den Palazzo Publico, am offenen unteren Ende zu postieren, also am Zielpunkt aller innerstädtischen Blickachsen. Diese kunstvolle stadträumliche Komposition wurde durch den in den Himmel hinaufgetriebenen Stadtturm noch einmal machtvoll übersteigert. Dieser Turm überstieg alle ringsum auf den Hügeln gelegenen Kirchen- und Adelsbauten und verkündete so eindruckvoll, wo in dieser Stadt die Macht ihren Sitz hat.

Im nächsten Kapitel seines Buches stellt Lampugnani einige Idealstädte der italienischen Renaissance vor. Eine der schönsten Geschichten, die hier zu erzählen sind, ist der Umbau des toskanischen Bergstädtchens Corsignano in die Idealstadt Pienza, den der im Ort geborene Adlige Enea Silvio Piccolomini mit dem Florentiner Architekten Bernardo Rossellino in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts realisiert hat. Die beiden pflanzten dem Bergnest ein repräsentatives Stadtzentrum in den neuesten Architekturformen ein. Die vier kurz hintereinander errichteten Hauptbauten nehmen in einer symbolisch deutbaren Geometrie aufeinander Bezug. Die neue Kirche ist nicht nach Osten, sondern über den Talrand hinweg nach Süden ausgerichtet. Die beiden Prachtbauten, die den Platz vor der Kirche flankieren - der Bischofspalast und der Palast für die Familie des Auftraggebers - bilden mit der Kirchenfassade ein suggestives Raumtrapez, dessen vierte Seite vom Stadtpalast und seinen Arkaden gebildet wird.

Die Gründe, warum die Mächtigen eines Landes oder einer Stadt in bestehende Strukturen eingegriffen haben, sind oft sehr unterschiedlich gewesen. Als Kardinal Peretti 1585 zum Papst Sixtus V. gewählt wurde, konnte er in Rom endlich die drastischen Maßnahmen durchsetzen, mit denen er die darniederliegende Wirtschaft ankurbeln wollte. Er ließ die sieben Hauptkirchen, die wie zufällig im riesigen Stadtgebiet von Rom verstreut waren, durch kilometerlange gerade Straßenachsen, die rücksichtslos durch bestehende Quartiere gefräst wurden, miteinander verbinden und schuf so ein neuzeitliches Straßennetz. Er machte also das planlos herangewucherte Stadtgefüge durchlässig und leitete so eine Neustrukturierung des urbanen Lebens ein, von der die Stadt noch jahrhundertelang profitiert hat.

Ganz anders waren die Voraussetzungen, als Stadtplaner sich daran machten, die beim katastrophalen Erdbeben von 1755 zerstörte Altstadt von Lissabon wieder aufzubauen. In Lissabon lässt sich der lange Planungsprozess anhand von sechs ganz unterschiedlich überzeugenden Plänen gut nachvollziehen. Man könnte fast von einem ersten Städtebau-Wettbewerb in Europa reden. Der neue Stadtteil, der dann auf dem flachen Talboden zwischen den beiden seitlich ansteigenden Hügeln errichtet wurde - mit seinem Raster paralleler Straßenachsen und mit den rechteckigen Plätzen am oberen und unteren Ende -, gilt, auch weil er aufs schönste mit den kleinteiligen Strukturen und den engen Gassen auf den Hügeln kontrastiert, als eine der glücklichsten stadtplanerischen Schöpfungen überhaupt. Eine europäische Metropole, die bis zur Unkenntlichkeit zerstört war, bekam durch kluge Pläne ihr pulsierendes Herz in neuzeitlichen Formen zurück.

Frankreich ist neben Italien das Land, in dem sich die Ergebnisse städtebaulicher Neukonzeptionen am markantesten ablesen lassen

Auch die Planer in der britischen Hauptstadt London sind im 17. Jahrhundert durch eine verheerende Katastrophe zu grundsätzlichen planerischen Entscheidungen gezwungen worden. Als im Jahr 1666 die mittelalterlich geprägte Innenstadt mit ihren Fachwerkhäusern fast vollständig niederbrannte, lieferte der Architekt Christopher Wren noch im gleichen Jahr einen Wiederaufbauplan, der das riesige Stadtgebiet mit einem orthogonalen Netz von Straßen überzog und die großen Monumente durch breite Schrägachsen miteinander verband. Doch von dieser Utopie wurde, da die Londoner Hausbesitzer ihre Grundstücke nicht beschneiden ließen, nahezu nichts verwirklicht. Wren konnte mit der St. Paul's Cathedral und den beiden großen Hospitälern zwar wichtige Neubauakzente setzen, und seine Architektenkollegen haben sich mit den kleinen Kirchen, die zu bauen waren, schöne Denkmäler errichten können. Der Rest der City aber wuchs gänzlich ohne übergeordnete Planung heran. Lediglich ein paar Durchgangsstraßen wurden geringfügig verbreitert oder leicht begradigt.

Wirklich Neues hat man in London erst im 18. Jahrhundert erprobt, als in den Wohngebieten im Westen der Stadt erstmals Squares ausgespart wurden, rechteckige weite Platzräume, die gärtnerisch aufwendig gestaltet wurden. Sie und auch die üppig begrünten geometrischen Platzräume, die damals in der Kurstadt Bath angelegt wurden, erinnern daran, dass der wichtigste Beitrag Englands zur Baukunst Europas der damals parallel entwickelte Landschaftsgarten war.

Frankreich ist neben Italien das Land, in dem sich die Ergebnisse städtebaulicher Neukonzeptionen am markantesten ablesen lassen. Lampugnani hat drei seiner Kapitel den dortigen Entwicklungen gewidmet. Im ersten geht er von den streng geometrischen Planungen für Schloss und Stadt Versailles aus und beschreibt, wie sich dieser Stil bei Schloss- und Parkbauten, städtischen Raumplanungen und Festungsentwürfen auf breitester Ebene durchgesetzt hat. Im zweiten Kapitel werden städtebauliche Utopien wie die von Ledoux geplante Idealstadt Chaux und klassizistische Pariser Planungen wie etwa die Rue de Rivoli behandelt. Und das dritte ist dem radikalen Umbau von Paris durch Haussmann - Stichwort Straßendurchbrüche - gewidmet.

Als einzige Stadt in Deutschland wird Berlin einer genaueren Untersuchung unterzogen. Wie Schinkel mit klug gesetzten Einzelbauten der Stadt eine neue Mitte beschert hat, wie Peter Joseph Lenné und später James Hobrecht mit ihren Raumplanungen die Entwicklung der Vorstädte geprägt haben, und wie sich die Mietskaserne dort als großstädtisches Baumodell durchsetzen konnte, wird in schöner Anschaulichkeit geschildert.

Natürlich ist auch für das Gesamtkunstwerk der Wiener Ringstraße ein ergiebiges Kapitel reserviert. Überraschender für Europäer sind aber wohl die Feststellungen Lampugnanis, dass die großen konzeptuellen Stadtgründungen in Nordamerika - etwa Philadelphia, Savannah, Washington und New York - ganz nach europäischen Vorstellungen vorgenommen worden sind, dann aber sich sehr individuell entwickelt haben. Der Stoff zum Staunen geht in Lampugnanis wissenschaftlich fundiertem und doch leicht lesbarem Buch also nie aus.

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