Architektur:Ist das Hochhaus die Antwort auf die Wohnungsnot?

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Die Wohnungsnot gehört zu den großen Herausforderungen Münchens: hier der Blick vom Stadtzentrum in Richtung Norden.

(Foto: imago/Westend61)

In Städten wie München wird das oft bezweifelt. Aber die Antwort lautet trotzdem: ja.

Von Gerhard Matzig

Es ist kein Zufall, dass sich die beiden bizarrsten Wohn-Utopien der Architekturgeschichte feindlich gegenüberstehen. Die eine Vision, ein gigantisches Hochhaus, sucht ihr Glück im Himmel und in der Vertikalität. Die andere Vision, eine gigantische Röhre, sucht das Heil auf der Erde und in der Horizontalität. Beide Visionen schließen sich aus, dabei ist ihnen eines gemeinsam: Sie lösen das weltweite Wohnungsproblem mit titanischer Geste. Kein Wunder also, dass sie wie zwei Glaubensbekenntnisse wirken. Himmel oder Erde, unten oder oben. Ideologisch kann man sich hinter den antagonistischen Formen wie hinter Fahnen versammeln. Dazwischen tobt, was das Wohnen angeht, ein Streit, der kaum weniger bizarr ist als die Embleme selbst.

Bleiben wir zunächst auf dem Boden, bleiben wir in München. Es war der im Jahr 2001 gestorbene Münchner Architekt Günther L. Eckert, der sich 1980 das Projekt "Das Kontinuum" ausdachte. Bekannt wurde es als "Röhre". Eckerts Plan: eine 35 000 Kilometer lange, röhrenförmige Konstruktion mit einem Durchmesser von 250 Metern, die auf Pylonen ruhend zwischen dem 40. und 50. Breitengrad als eine Art Brückenbauwerk einmal um die komplette Erde herum gelegt wird. Zum Zeitpunkt dieser Fantastik lebten etwa vier Milliarden Menschen auf der Erde. Alle sollten sie ihr Zuhause in der Röhre finden. Samt Ackerbau und Viehzucht, samt Kultur und Verkehr. Eckert wollte der Menschheit ein futuristisches Habitat geben und zugleich der Natur ermöglich, sich vom siedelnden Menschen wie von einem Parasiten zu befreien, um sich zu regenerieren.

Es war nicht der Plan eines Wahnsinnigen, sondern die tendenziell irre Idee eines Humanisten. Gut, dass das Vorhaben nicht realisiert wurde. Technisch wäre es übrigens möglich. Abgesehen davon, dass wir mittlerweile schon die zweite Röhre ausfüllen würden wie eine Presswurst.

Konstruktiv unmöglich (zu hohes Eigengewicht) ist jedoch vorerst die andere große Wohn-Utopie. Sie stammt aus Japan und ebenfalls aus dem an Visionen so reichen Jahr 1980. "X-Seed 4000" ist der Name eines in Vulkankegel-Form vier Kilometer hoch aufragenden Wolkenkratzers, der gedacht ist für eine Million Menschen. Sechs Kilometer breit wäre der Wohnkegel an der Basis. Geplant wurde das Bauwerk für eine künstliche Insel in der Bucht von Tokio. Aber interessant wäre die Idee auch für München und an der Isar. Anderthalb X-Seeds 4000 und anderthalb Millionen Münchner im Himmel: Dieter Reiter wäre seine Wohnsorgen los.

"Damit München München bleibt": Ist das ein Versprechen oder eine Drohung?

Der Oberbürgermeister von München, dem man manches, aber leider keine Visionen nachsagen kann, teilt seine Sorgen mit den großen Städten in aller Welt. Die Wohnungsnot in den Zentren und Metropolregionen gehört im Zeitalter der Verstädterung samt ihrer Zwillingsschwester, der Mietpreisexplosion, zu den großen Herausforderungen. Auch daran entscheidet sich die Zukunft. Schon deshalb sollte man die Fragen dahinter nicht versimpeln. Doch genau das tut der Münchner OB. Er bezweifelt die Zukunft des Wohnhochhauses in seiner Stadt.

Weil "zu teuer". Zu strenge Vorschriften. Und überhaupt. Richtig daran ist eigentlich nur, dass für den Bau von Hochhäusern, die baurechtlich in Deutschland schon ab einer Höhe von mehr als 22 Metern solche sind, verschärfte Brandschutzvorschriften gelten. Das ist auch gut so - und übrigens ein Grund, warum Katastrophen wie zuletzt in London hierzulande weniger wahrscheinlich sind. Dazu kommt, dass das Bauen in der Höhe wegen des aufwendiger zu organisierenden Standschutzes und höherer, konstruktiv wirksamer Traglasten naturgemäß teurer ist als das Bauen auf der Erde. Versimpelt: Das Badezimmer in 1000 Meter Höhe ist teurer als das Badezimmer in einem Meter Höhe, weil das Wasser dazwischen auch 999 Meter Leitungsmaterial und man selbst die Energie benötigt, es entgegen seiner Schwerkraftneigung nach oben zu bringen. Im Fall des absurden X-Seed müsste man übrigens auch für Sauerstoff in der oben dünner werdenden Luft sorgen. Atmest du noch oder wohnst du schon? Das könnte - grob geschätzt - die Frage etwa ab dem 400. Stockwerk sein.

Natürlich ist es närrisch, abseits reiner Gedankenmodelle über solche Höhen zum Wohnen nachzudenken. Aus europäischer Sicht kann man die Höhenrauschrekorde ruhig Dubai, China oder auch den USA überlassen - wo der 610 Meter hohe "Chicago Spire" (nach einem Entwurf von Santiago Calatrava) als "höchstes reines Wohngebäude der Welt" aber vorerst gescheitert ist. Zu Recht.

Wie könnten Städte wie New York oder Kuala Lumpur existieren, hätte das Hochhaus keine Zukunft?

Zugleich ist es aber auch nicht sonderlich intelligent, ein etwas höheres und dichteres Wohnen in unseren Städten kategorisch auszuschließen und das Denken ab einer Höhe von 22 Metern einzustellen, im Vertrauen auf seltsame Studien einerseits und auf eine Hochhausdefinition, die aus dem 19. Jahrhundert stammt und sich der Begrenztheit von Feuerwehrdrehleitern verdankt. Richtig ist zwar, dass immer mehr Studien von diversen Immobilienentwicklern kursieren, die geeignet sind, die kleine Hochhauseuphorie der letzten Jahre quasi wieder zu erden. Tatsächlich sind vor allem teure Wohnungen für vermögende Urbanisten in den neuen deutschen Hochhäusern entstanden. Der Massenwohnungsnot ist damit nicht beizukommen. Außerdem sagten in einer Umfrage vor zwei Jahren nur 15 Prozent der Befragten, dass sie "gern" in einem Hochhaus leben möchten. Eine Minderheit also.

Aber auch das hat damit zu tun, dass sich die Freunde und Gegner des Hochhinausbauens in ihren Klischees verheddert haben. Es gibt schon längst bemerkenswerte Vorschläge für kostengünstige, energieeffiziente, vor allem aber mittelhohe Wohnhochhäuser mit großen Raumqualitäten. Bei Christoph Langhofs Berliner Projekt "Epsilon", einem pyramidal geformten Hochhaus von 65 Metern, werden die Technikräume zum Beispiel dort angeordnet, wo sich die Belichtungsfrage stellt: im Bauch des Hauses. Andere Architekten experimentieren, etwa in Wien, mit Holz und anderen günstigen, dabei feuerfest verwendeten Materialien. Auch in der Höhe.

Wie könnten Städte wie New York, Hongkong oder Kuala Lumpur existieren, hätte das Hochhaus keine Zukunft und der Münchner OB recht? Es ist nun mal so: In den Städten wird das Bauen in die Höhe einerseits zwar teurer, insgesamt aber ist es ökonomischer und zugleich ökologischer, teure Grundstücke hoch und dicht zu bebauen. Man muss sich für München und andere europäische Städte, die schon immer Orte der Dichte waren, ja keine Wohnsuperlative, Röhren oder Vulkane wünschen. Aber Architekten wie der Münchner TU-Professor Dietrich Fink haben längst nachgewiesen, dass Wohnhochhäuser, 40, 50 oder auch 60 Meter hoch, München an etlichen Standorten guttun.

Abgesehen davon würde es ja schon reichen, wenn sich München mal etwas anderes vorstellen könnte als all die viergeschossigen Wohnregale, die hier für modernen Wohnungsbau und zeitgemäße Stadtentwicklung gehalten werden. Paris, London, Wien: Das sind, mit und auch ohne Hochhäuser, dichte, hohe und schöne Städte. München sieht dagegen allmählich aus wie ein erstarrter Betonkuhfladen. Die frühere Wahlkampfparole des heutigen Rathauschefs ("Damit München München bleibt"): Das war womöglich kein Versprechen, sondern eine Drohung.

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