Architektur und Utopie:"Tokio ist hoffnungslos"

Zu viele Menschen auf engstem Raum: In den zukunftsgläubigen 1960er Jahren entwickelten japanische Architekten Zukunftsutopien von Riesenstädten und Megabauten - etwa im Steckkastensystem. Doch die Idee einer neuen Gesellschaft starb in der Ölkrise. Rem Koolhaas und Hans Ulrich Obrist haben die Ideen nun auf ihre Realisierbarkeit hin überprüft - nachzulesen bei Taschen.

Laura Weissmüller

Es klingt, als wäre ihnen das Bauen auf dem Boden einfach zu banal geworden: "Die Kapseln stehen für eine Emanzipation der Gebäude in ihrer Beziehung zum Boden und kündigen die Ära der beweglichen Architektur an", heißt es 1969 vollmundig in der sogenannten Kapsel-Erklärung von Kisho Kurokawa, einem Mitglied der Metabolisten.

Kenji Ekuan, Dwelling City, 1964. Collage

Die Städte sollten organisch wachsen können und nach Bedarf erweiterbar sein. Eine Stadt nach dem Steckkastensystem also. Nur eben eine, die lieber in Millionen denkt als in ein paar tausend. Im Bild: Dwelling City von Kenji Ekuan, 1964 (Entwurf).

(Foto: Kenji Ekuan)

Wer die Entwürfe der japanischen Architektengruppe aus dieser Zeit studiert, sieht zwar eher etwas, das an gigantische Butterbrotboxen erinnert und an Hochhausfassaden, unter die Decke von Stelzenhäusern oder auf Räder geschnallt wird, aber die Botschaft ist klar: Die Erde ist nicht genug, es muss in die Luft oder zumindest auf hohe See gehen!

Es ist der ungebrochene Zukunftsoptimismus, der bis heute an den Entwürfen der Metabolisten so fasziniert. Die gesamte Bandbreite von Architektentypen versammelte sich vor einem halben Jahrhundert um den 1913 geborenen Kenzo Tange: vom charismatischen Wunderkind und popaffinen Schönling bis zum Revolutionären und Royalisten. Nur eines waren sie alle nicht: Realisten. Was für ein Glück.

Ein großes Glück, nicht nur für Architekturinteressierte, ist auch der 720 Seiten starke Band "Project Japan. Metabolism Talks . . .". Sechs Jahre lang haben der niederländische Architekt Rem Koolhaas und der schweizerische Kurator Hans Ulrich Obrist dafür die letzten lebenden Metabolisten in Japan interviewt, alte Schwarzweißfotos gesammelt, die oft lange Tafeln mit mondän gekleideten Herren in dicken Zigarrenwolken zeigen, aber auch Zeichnungen von legoartigen Steckkastensystemen, Entwürfe von pyramidenartigen Meeresstädten und Landkarten, die gerne mit Neonfarben markiert wurden.

Beim ersten Durchblättern entsteht der Eindruck eines übervollen Schreibtisches, der mit jeder Menge Post-its beklebt ist. Tatsächlich lässt sich aber aus dem dichten Material von Koolhaas und Obrist das Bild einer Gesellschaft herauslesen, die damals gerade dabei war, sich neu zu erfinden.

Archtektur, die die Welt verändern will

Das Ergebnis des außergewöhnlichen Zeitzeugenprojekts folgt einer klaren Ordnung aus Kurzbiographien, Interviewblöcken, einzelnen Schwerpunkten, knappen Definitionen und herrlich unaufgeregten Fotostrecken von Charlie Koolhaas, der Tochter des niederländischen Architekten. Die Fotos zeigen den heutigen Zustand der Metabolisten-Gebäude. Allzu viele waren das nie. Was die Gruppe wirklich interessierte, war schließlich größer als jeder Zeichentisch fassen konnte: Es war die Frage, wie Architektur die dringenden Probleme der Welt lösen wird.

Diese Frage, die so unbeirrt nach vorne zielte, war aus der größten Not geboren: Nicht lange bevor die Gruppe 1960 in ihrem Manifest ihre Architekturauffassung Metabolismus taufte (als Art politische Metapher. Ein Mitglied der Gruppe war Marxist), lag ihre Heimat noch in Schutt und Asche: 1945 war die Hälfte von Tokio zerstört, von 17 anderen Städten sogar 60 bis 88 Prozent, und von Toyama stand gerade mal noch ein Prozent. Dazu kam die atomare Verwüstung durch die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Architektur konnte damals nur Neubauen bedeuten.

Doch die Metabolisten wollten mehr. Durch modernste Technik und Design, wollten sie Japan auf die Landkarte des internationalen Interesses befördern. Die Welt sollte sehen, welche einzigartigen Ideen dieses Land hervorbrachte. Die zentrale Figur dabei war Kenzo Tange. Obwohl der Architekt genau zu dem Zeitpunkt starb, als Koolhaas und Obrist 2005 das Interviewprojekt begannen, und ein Gespräch mit ihm deswegen fehlt, ist "Project Japan" auch ein Buch über ihn geworden.

Zwischen Tradition und Utopismus

Sowohl das "Tange Lab" an der Tokioer Uni als auch das Büro des späteren Pritzker-Preisträgers zu Hause geriet zum Kräftezentrum der Gruppe. Hier suchten Architekten wie Arata Isozaki, Fumihiko Maki oder Kisho Kurokawa nach Lösungen, um mit ihren Bauten den Boden zu verlassen. Nicht zuletzt, weil der immer knapper wurde: Zwischen 1945 und 1960 explodierte die Einwohnerzahl von Tokio von 3,5 Millionen auf 9,5 Millionen, Tendenz steigend.

Project Japan

Sechs Jahre lang haben der niederländische Architekt Rem Koolhaas und der schweizerische Kurator Hans Ulrich Obrist die letzten lebenden Metabolisten in Japan interviewm, Fotos gesammelt und Entwürfe gesichtet.

(Foto: Taschen)

"Tokio ist hoffnungslos", schrieb Isozaki 1962 genervt. "Ich werde mich nicht länger mit Architektur beschäftigen, die niedriger als 30 Meter ist. Alles, was darunter ist, überlasse ich den anderen. Wenn die glauben, sie können die Unordnung in dieser Stadt auseinanderklamüsern, sollen sie es ruhig versuchen." Zur Platznot kam die ständige Bedrohung durch Erdbeben und Tsunamis. Der Blick der Metabolisten nach oben, er war auch der Ausdruck für den Wunsch dieser Zeit nach einer Zukunft ohne Gefahr.

Obwohl ihre Zeichnungen mit den zylinderförmigen Hochhaussilos oder den wabenartigen Wohnklumpen wie die etwas ungelenken Vorläufer der digitalen Architekturentwürfe von heute aussehen, verband sie tatsächlich viel mit der japanischen Geschichte. Tange war der Meinung, dass Architektur nur zur Hälfte aus Zukunft bestehe - zur anderen Hälfte aber aus Vergangenheit. Jahrhunderte alte japanische Bautraditionen lassen sich auch in den Entwürfen der anderen Metabolisten wiederfinden: das Verwenden von Symmetrie etwa oder der Einsatz von Innenhöfen und Pilotis.

Gleichwohl war der Anspruch an die Architektur der Nachkriegszeit nun ein gänzlich anderer als der an den Schrein von Ise oder die kaiserliche Villa Katsura: Die Städte sollten organisch wachsen können und nach Bedarf erweiterbar sein. Deswegen die immer gleichförmigen Bauelemente, wie sie auch Architekten wie Konrad Wachsmann oder Yona Friedman favorisierten, die durch parasitäres Andocken und Aufsockeln auf vorhandene Strukturen beliebig vervielfacht werden konnten. Eine Stadt nach dem Steckkastensystem also. Nur eben eine, die lieber in Millionen denkt als in ein paar tausend.

Neueste Technik sollte diese Luftstädte möglich machen. Die Metabolisten passten damit zum utopischen Zeitgeist der Sechziger: Frankreich und England bastelten gerade an der Concorde, Russland an der Sputnik-Mission. Arata Isozaki, der sich als Sympathisant, nie aber als Mitglied der Bewegung sah, meinte dazu im Interview mit Koolhaas: "Diese Architekten hatten keinerlei Skepsis gegenüber ihrer Utopie (. . .) Sie glaubten wirklich an die Technologie, an die Massenproduktion; sie glaubten an eine planbare städtische Infrastruktur und ein geordnetes Wachstum."

Die Ölkrise setzt allen Träumen ein Ende

Wie sehr diese Vorstellung zum Scheitern verurteilt war, wissen wir heute. Auch die Metabolisten mussten es schnell einsehen: Kurz nachdem sie ihre Ideen 1970 auf der Expo in Tokio, für die Tange den Masterplan entwarf, der Weltöffentlichkeit präsentieren durften - in einem halben Jahr besuchten 64 Millionen Menschen die Weltausstellung - zerschellte ihre Technik-Utopie an der Ölkrise. So gut wie nichts wurde gebaut, allein der Mittlere Osten (wer auch sonst) fand Gefallen an den gigantischen Megastrukturen. Ansonsten verschwanden die Pläne in den Tiefen der Schubladen.

Warum sie jetzt wieder hervorholen? Ein halbes Jahrhundert später und vermutlich nicht mehr allzu lange hin bis zur ultimativen Ölkrise? Vielleicht weil das kluge Zeitzeugenprojekt zeigt, wie die Metabolisten die Massen für Architektur begeistern konnten: Ihre Ideen füllten Magazinstrecken und wurden im Fernsehen diskutiert. Allen voran avancierte der gut aussehende Kisho Kurokawa zum Popstar, seine Bücher "Urban Design" von 1965 und "Action Architecture" von 1967 wurden Bestseller. Selten kam Architektur so unverschämt dandyhaft, so zigarrenwolkenleicht und sportwagenschnell daher. Die Fragen der Zukunft wollten die Metabolisten trotzdem lösen. Man könnte, während man fest auf dem Boden der Tatsachen steht, fast neidisch werden.

REM KOOLHAAS, HANS ULRICH OBRIST: "Project Japan. Metabolism Talks . . .". Taschen Verlag, Köln 2011. 720 Seiten, 39,99 Euro.

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