Architektur ist Pop:Vegas Barock

In den Sechzigern fing die Architektur-Ästhetik an, auf die Fassade zu gucken, nicht mehr auf die Substanz. Ein Buch von Venturi & Scott Brown wies den Weg.

Von Jörg Häntzschel

"Less is a bore", weniger ist langweilig, sagte Robert Venturi einmal, als zerknülle er Mies van der Rohes Modernismus-Dogma "Less is more" und pfeffere es in den Papierkorb. Es waren die Sechzigerjahre. Aus der einstigen Avantgarde der architektonischen Moderne war routinierte Ödnis geworden, neue Ideen fehlten. Venturi und seine Kollegin und Freundin Denise Scott Brown, die in Yale Architektur lehrten, beschlossen, mit ihren Studenten eine Studienreise zu machen. Nicht nach Rom oder Paris, auch nicht Brasília, sondern nach Las Vegas, überzeugt, in der damals wilden Neon-Oase neue Inspiration zu finden.

Schon das Reiseziel war fürs Architekturestablishment ein Skandal, selbst damals, in der Hochzeit des Pop. Aber auch die Methoden waren suspekt. Sie knipsten Tausende Bilder, befestigten beim Cruisen auf dem "Strip" ihre Kameras auf der Motorhaube. Statt Gebäudestrukturen und -volumen zu analysieren, wie es sich gehörte, weideten sie sich an den Fassaden. Mehr als die Realität interessierte sie die Erscheinung - der einzige Weg, der karnevalesken Anmach-Architektur gerecht zu werden und in ihr das "zeitgenössische Erhabene" (Rem Koolhaas) zu entdecken.

Oft war da ja auch gar nicht mehr. Hinter himmelhohen Kaskaden aus Licht verbargen sich meist nichtssagende Zweckbauten. Unter anderem deshalb interessierten sich Venturi und Scott Brown ja auch für die Stadt. Das modernistische Gebot, nach dem das Gebäude seine Funktion und Bestimmung verkörpern müsse, sei eine Sackgasse, fanden sie. Die Zeit sei reif für die Ära des "dekorierten Schuppens", also für die billige, demokratische Kiste, die erst mit bunter Deko zu dem wird, was sie sein soll. Nun müsse man den anonymen Werbebarock der Tankstellen, Motels und Fastfood-Läden, die nach dem Krieg begannen, Amerikas Ausfallstraßen zu säumen, als Quelle für eine architektonische Befreiung erkennen. Und nirgends erreichte das Spektakel aus Farbe, Form und Licht eine so schwindelerregende Qualität wie am berühmten "Strip". Das 1972 erschienene Buch "Learning from Las Vegas", in dem Venturi, Scott Brown und Steven Izenour von ihren Funden in Las Vegas berichten wie Archäologen von einer antiken Stadt, wurde denn auch zu einer der grundlegenden Schriften der Postmoderne.

Doch von den vielen Tausend Fotos, die sie und ihre Studenten damals aufnahmen, enthielt es nur wenige. Mehr sind in dem ursprünglich als Ausstellungskatalog erschienenen Band "Las Vegas Studio" versammelt, der jetzt als Paperback neu aufgelegt wurde: eine lässige, unorthodoxe, aber extrem inspirierte Mischung aus ambitionierten Architekturfotografien, Filmsequenzen, Schnappschüssen und vielen charmanten Blicken hinter die Kulissen des Projekts, das allen Beteiligten unverkennbar sehr viel Spaß gemacht hat. Ergänzt und gerahmt wird der Band durch einen erhellenden Essay des Schweizer Architekturhistorikers und Las-Vegas-Fans Martino Stierli und ein Gespräch von Rem Koolhaas, Peter Fischli und Hans Ulrich Obrist.

Las Vegas Studio: Images From the Archive of Robert Venturi and Denise Scott Brown. Scheidegger & Spiess, Zürich 2015,196 Seiten, 32 Euro.

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