Architektur:Eisbrecher mit Taktgefühl

Am Pariser Stadtrand eröffnet die neue Philharmonie. Die Freude über den spektakulären Bau des französischen Architekten Jean Nouvel ist groß - aber der Ärger darüber auch.

Von Joseph Hanimann

Als hätte er den Kurs aus der Stadtmitte hinaus in die Banlieue von Pantin und Bobigny auch gern noch weiter fortgesetzt, steht der metallgrau schillernde Koloss da: ein an den Sozialklippen der Vorstadt aufgelaufener Eisbrecher musikalischer Chancengleichheit. Eiszeiten waren mehrere zu durchqueren für dieses Projekt der Pariser Philharmonie, seitdem das Fehlen eines angemessenen Konzertsaals vor dreißig Jahren als Thema in die öffentliche Debatte kam. Unter Mitterrand wurde die Bastille-Oper gebaut sowie das staatliche Musikkonservatorium und die Cité de la Musique mit einem Konzertsaal. Die Idee eines großen, modernen Saals blieb aber auf der Strecke. Wäre nicht der hartnäckig pochende Pierre Boulez gewesen, stünde die Sache wohl noch heute auf der Wunschliste. Mit der Einweihung an diesem Mittwoch geht aber ein langes Wechselspiel aus Verheißungen, Zögern, Vertagen, Neuplanen, Streiten, aus Kostenexplosion, Baustopp und zuletzt einer Zerreißprobe zwischen Bauherrn und Architekten zu Ende. Und gleichzeitig fängt ein neuer Hürdenlauf an: der eines tragbaren Programms für nunmehr insgesamt neuntausend Konzertplätze in der Stadt.

Das Publikum sitzt hier wie auf Wolken, hinter denen der Klang frei zirkulieren kann

Das wird vornehmlich die Aufgabe von Laurent Bayle sein, dem langjährigen Mitstreiter von Pierre Boulez, zuvor Direktor von dessen Ensemble Intercontemporain und seit 2001 Direktor der Cité de la Musique im Parc de la Villette am Nordostrand von Paris. Bayle lässt sich den Stress der letzten Monate nicht anmerken. Das so sanfte wie zielbewusste Führungsgeschick dieses Pariser Hauptimpresarios war nötig, um das Projekt der Philharmonie über die letzten Hürden zu bringen. Der 1927 eingeweihte Konzertsaal Pleyel und das etwas ältere Théâtre des Champs-Élysées mit je knapp zweitausend Plätzen genügten den Anforderungen des modernen Konzertbetriebs nicht mehr. Gleich neben der Cité de la Musique im Villette-Park stand der Standort für das neue Haus schon seit 2006 fest. Der Staat und die Stadt feilschten jedoch lange um die Kostenbeteiligung an dem zunächst auf 170 Millionen Euro veranschlagten Projekt.

Beim Architekturwettbewerb hatten Zaha Hadid, Coop Himmelb(l)au, Jean Nouvel, Christian de Portzamparc, der Architekt von Musikkonservatorium und Cité de la Musique, in der Endrunde gestanden. Nouvels Entwurf war, gegen das Votum der in der Jury vertretenen Architekten, als Sieger hervorgegangen. Zwei Dinge hätten für Nouvel den Ausschlag gegeben, erklärt heute Laurent Bayle. Mehr als seine Konkurrenten habe er den Standort zwischen Villette-Park, Ringboulevard, Vorstadt und Portzamparc-Komplex der Cité de la Musique in seinen Entwurf einbezogen, außerdem setze sein Innenraum neue Standards des modernen Konzertsaalbaus.

Was den ersten Punkt angeht, hat Bayle nicht unrecht. Trotz ihrer zwanzigtausend Quadratmeter Arealfläche verstellt die Philharmonie nicht die Umgebung. Dieser nunmehr vierte Kulturbau Jean Nouvels für Paris, nach dem Institut du Monde Arabe, der Fondation Cartier und dem Musée du Quai-Branly, wirkt mit seinen ineinander verkanteten schiefen Ebenen wie ein kubistisch aufgeschütteter Stadthügel. Auf Zickzackwegen ist er begehbar bis oben aufs Dach auf 37 Metern Höhe und setzt zugleich ein neues Wahrzeichen ins Stadtbild. Eine lange, flache Zugangsrampe führt von der Stadtpforte Porte de Pantin empor zum Konzertsaal in der ersten Etage. Ein Mosaikmantel aus 340 000 Aluminium- und Betonplatten mit der Form stilisierter Vögel bekleidet den Bau, als wäre ein Taubenschwarm zum Monument erstarrt. Neben dem großen Konzertsaal beherbergt das Gebäude fünf Probesäle, einen Ausstellungssaal, pädagogische Räume, ein Restaurant und ein Parkcafé. Mit seinen in sich verkanteten, geknickten und gewölbten Schrägfassaden streckt die Stadtskulptur in ihrem matt glänzenden Metallkleid der Umgebung bei trübem Wetter ein griesgrämiges Ätsch-Gesicht und bei Sonnenschein ein munteres Blinzeln und Glitzern entgegen.

Die Baukosten haben sich mehr als verdoppelt. Deswegen soll nun auch Weltmusik ins Programm

Interessanter als diese etwas überinszenierte Außenerscheinung ist das, was man im Inneren vorfindet, mag es auch nicht wirklich die von Direktor Bayle angekündigte Revolution bringen. Über bald sich verengende, bald sich weitende Wege gelangt man in den Konzertsaal, der neue Zeichen setzt. Im Kultur- und Kongresszentrum Luzern und im Konzerthaus Kopenhagen hat Jean Nouvel schon gezeigt, was er kann. Mit der Pariser Philharmonie ist der Architekt einen Schritt weiter gegangen. Im Saal mit seinen 30 000 Kubikmetern Volumen sind die Zuhörerbalkone von der Hinterwand abgesetzt. Das Publikum sitzt wie auf Wolken, hinter denen der Klang frei zirkuliert. Die von Scharouns Berliner Philharmonie initiierte "Wine-Yard-Akustik" mit dem Orchester zu Füßen der Zuschauerränge ist hier so angeordnet, dass der hinterste Platz nicht weiter als 32 Meter vom Dirigenten entfernt liegt. Durch Versenkung der Parterresitze und der Ränge hinter dem Orchester kann die Fassungskapazität für Rock- oder Popveranstaltungen von 2400 auf 3650 Plätze erhöht werden. Für die Raumakustik hat Nouvel sich mit dem Neuseeländer Harold Marshall zusammengetan und den Rat des Japaners Yasuhisa Toyota eingeholt.

Bleibt trotz der Freude über die Einweihung der Ärger, angefangen mit dem über die Kostenexplosion. Ganz so schlimm wie bei der Elbphilharmonie ist sie zwar nicht ausgefallen. Aber der Aufwand ist von den ursprünglich 170 Millionen Euro auf annähernd 400 gestiegen. Die Pariser Oberbürgermeisterin Anne Hidalgo verlangt für das Haus zumindest starke Berücksichtigung der "World Music" und drohte andernfalls mit Senkung des Finanzbeitrags. Weltmusik? - ist schon passiert, spottete der Komponist Pascal Dusapin: Gershwins "Ein Amerikaner in Paris", Haydns Londoner Sinfonien, Mendelssohns "Hebriden" seien eingeplant. Laurent Bayle setzt in Sachen musikalischer Publikumsbreite vor allem auf das pädagogische Programm auf den dafür bestimmten 1800 Quadratmetern des neuen Hauses.

Dauerhaft verstimmt zeigt sich der Architekt Jean Nouvel. Er boykottierte die Eröffnung, weil er es für unverantwortlich hält, den Bau schon jetzt - laut ihm Monate vor Fertigstellung - einzuweihen und wehrt sich gegen den Vorwurf, sein Büro sei schuld an der Kostenüberschreitung. Innerlich scheint er sich vom Gebäude schon distanziert zu haben, nachdem ihm die Bauherren für die Endfertigung das Heft aus der Hand genommen haben.

Immerhin sind die absurden Einwände verstummt, das klassische Pariser Konzertpublikum würde sich nur ungern so weit hinaus an den Stadtrand begeben. Es wird sich umso schneller daran gewöhnen, als die fortan von der Finanzholding Fimalac betriebene Salle Pleyel gar keine klassischen Musikprogramme mehr anbieten darf. Das bisher dort angesiedelte Orchestre de Paris mit seinem Chef Paavo Järvi, das Ensemble Intercontemporain unter Matthias Pintscher und das Ensemble Les Arts Florissants unter William Christie werden nun im neuen Gebäude ihr Quartier beziehen. Von der Infrastruktur her hat Paris keine Ausrede mehr, nicht zu den Weltmetropolen des Musiklebens zu gehören.

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