Architektur:Das Leben ist eine Schaustelle

In Karlsruhe präsentiert die Ausstellung "Frei Otto - Denken in Modellen" das Lebenswerk eines Architekten, der das Bauen der Gegenwart wie kaum jemand sonst geprägt hat.

Von Gerhard Matzig

Wer das Glück hatte, im Architekturstudium den wie einen Ingenieur denkenden Architekten und den wie einen Architekten handelnden Ingenieur Frei Paul Otto (1925-2015) als Lehrer zu erleben, der erinnert sich zum Beispiel an diese zwei typischen Gedankenbausteine Ottos, die nur scheinbar widersprüchlich sind - und doch zusammen ein sinnstiftendes Ganzes ergeben.

Erstens: Es muss, jawohl, es muss ein Bau-Gen geben. Frei Otto, dem seine Eltern - Künstler, die dem Werkbund nahe standen - den Vornamen "Frei" gaben, damit er es auch sei im Denken und Handeln, konnte das Bau-Gen natürlich nicht nachweisen. Behauptet hat er es lange vor der jetzt aktuellen Genom-Decodierung. Aber er rechnete fest mit dessen Existenz, denn er glaubte an das Bauen als Menschenrecht. Und ebenso an die Baukultur als Pflicht und Verantwortung. Er sagte: "Auch wenn sich der Mensch nicht schützen müsste vor Regen und Kälte, so würde er doch bauen." Warum? "Weil es ihm eingeschrieben ist." Weil es ihn auszeichnet, weil der Mensch eben Mensch ist. Er baut, weil er bauen kann. Und weil die Natur nichts anderes ist als eine einzige große Baustelle. Für Otto allerdings auch: eine Schaustelle, also ein Ort des Studiums vom Leben und seinen Formen.

Zweitens erinnert man sich eben deshalb auch sogleich an Ottos fast schon spirituelle Bewunderung für die Baukunst der Natur: Ein einfacher Grashalm war für ihn unerreicht in seiner konstruktiven Genialität. Ein simpler Tannenzapfen war für ihn Abdruck unermesslicher Schönheit. Ein Spinnennetz war für ihn ein bewunderungswürdiges Baukunstwerk. Eines, von dem man nur lernen könne.

Wenn man begreifen will, wie es Frei Otto schaffen konnte, ohne Signature Buildings und millionenschwere Prestigeaufträge, ohne PR-Stab, global organisiertem Büro und computergenerierter Suggestivbildchen zu einem der bedeutsamsten, innovativsten und inspirierendsten Architekten der Nachkriegsmoderne zu werden, muss man sich jene beiden Denkfiguren vergegenwärtigen: Der Mensch will bauen um des Bauens willen; das ist Teil seiner Hybris. Er verneigt sich aber auch in Demut vor dem Wunderwerk der Natur; das ist Teil seiner Verantwortlichkeit.

Weltberühmt wurde Frei Ottos Werk vor allem durch das Münchner Olympia-Zeltdach

Erst beides zusammen ergibt ein architektonisch-ganzheitliches Denken, das zugleich bewahren und gestalten will. Das zugleich Utopie und Erinnerung ist. Das zugleich die Technik verehrt und die Natur nicht versehrt. Solches Denken ist souverän. Obwohl es sich eigentlich nur aus der Neugierde speist und vom Verstehenwollen angetrieben wird. Wie simpel. Wie schön. Und wie einzigartig. Es fällt einem noch immer kaum eine Handvoll Namen ein, welche die Lücke, die Ottos Tod vor fast zwei Jahren riss, halbwegs schließt.

Bekannt wurde Frei Ottos phänomenal leichte, flirrende, schwebend-heitere Zeltdach-Baukunst, als er dem Team um Günter Behnisch in den Sechzigerjahren half, die singuläre Dachlandschaft des Münchner Olympiaparks zu realisieren. Ohne Frei Ottos Deutschland-Pavillon für die Expo 1967 in Montreal wäre diese Art der Luftschloss-Architektur, in der sich das Kühne mit dem Humanen und die Ästhetik mit der Konstruktion wie nirgendwo sonst verbinden, weder formal noch technisch denkbar gewesen.

Zu nennen wären aber auch die St.-Lukas-Kirche in Bremen, die Multihalle in Mannheim, die Groß-Voliere im Tierpark Hellabrunn in München . . . Bis in die späten Achtzigerjahre hinein sollte jede zweite Kleinstadt in Europa irgendwo in einem Park ein Stück Zeltdach-Architektur à la Frei Otto realisieren. Die - scheinbare - Überwindung der Statik wurde zur Chiffre der Demokratie und zum Baucode der Hoffnung. Leichtigkeit wurde zum Gebot der Stunde. Nicht zufällig nach schweren Zeiten in einer Ära der Schwere.

Dabei ging es Otto eigentlich nie um die Überwindung statischer Schwere, sondern um das Begreifen von Statik als Kunst der Ökonomie. Und wo wäre diese Kunst vollendeter anzutreffen als in der Ökologie? So wurde Otto auch einer der großen Organiker der Moderne. Einer, der sich von Tannenzapfen inspirieren und von Sandhaufen begeistern ließ. Zu schweigen vom Wahnwitz der Spinnen.

Weshalb man nun im ZKM in Karlsruhe, im Zentrum für Kunst und Medien, eher nicht an Arachnophobie leiden sollte, um die großartige Retrospektive, die das Schauen ehrt - und lehrt, genießen zu können. Denn im ersten Lichthof, der dem Naturforscher Otto gewidmet ist, stolpert man sogleich hinein in ein sinnlich erlebbares Netz der Architektur-Verstrickungen, der Konstruktions-Ebenen und der komplexen Ingenieurs-Zusammenhänge. Man zappelt förmlich in einem Netz wahrer Baukultur. Denn darum ging es Otto: das "Bauwerk aus dem Bereich des Nur-Funktionalen, Nur-Ökonomischen, Nur-Technischen ohne Beeinträchtigung dieser Vorzüge in jenen Bereich zu führen, bei dem vielleicht Architektur beginnt".

Es ist, als würde man sich sogleich verfangen in einem gewaltigen Netz, das aber nicht die Spinnen, sondern die Kuratoren hergestellt haben. Es besteht auch nicht aus Seide, sondern aus fingerdicken, weißen Stromkabeln, die sich durch den Raum winden. Die Ausstellungsarchitektur ist somit eine Raum gewordene Hommage an jenes "Seil" als konstruktives Grundelement des Bauens, das wie kaum etwas anderes zum Fundament des Denkens von Frei Otto wie auch der organischen Moderne wurde.

Jeder von den fast zwanzig im Lichthof des ZKM verteilten, türblattgroßen Werktischen wird von zwei kleinen, von der Decke herabhängenden Tischleuchten erhellt. Auf dem Tisch sind Fotos zu sehen, die unter dem Titel "Hänge-Experimente" die Formfindungsprozesse Ottos illustrieren. Einmal heißt es dort: "Die Netze der Spinnen sind die ersten Konstruktionen." Deshalb werden die Tische im ersten Lichthof von Leuchten erhellt, die jeweils an fünfzig oder sechzig Meter langen Stromkabeln hängen. Die Kabel bilden perspektivisch eine Art Netzsystem.

Allen Architekten, die auf ihren Monitor starren, sei eine Reise nach Karlsruhe empfohlen

Im zweiten Lichthof, er nimmt die Modelle etlicher Entwürfe auf, ist ein gewaltiger Tisch in strenger Orthogonalität aufgebaut. Unter den exakt ausgerichteten, federleicht abgespannten Lichtschienen kann man der Kunst des Modellbaus nahekommen. Und auch das zeichnet Otto aus: ein "Denken in Modellen". Es ist ein tastendes Raumdenken, das sich darin manifestiert. Und zugleich die Einheit von konkretem Handwerk und intellektueller Abstraktion. Heute ist es mittlerweile in vielen Architekturbüros so, dass die Modellbau-Abteilungen immer kleiner werden, während die Computergrafik-Kapazitäten immer gigantischer ausfallen.

Der Baukunst ist das nicht förderlich. Sie wird wieder schwerer, oft hässlicher, selten natürlicher. Frei Otto fehlt. Und man kann nur all jenen, die gerade in ihre Monitore und auf die Simulationen starren, eine Fahrt nach Karlsruhe und das Denken, ja Begreifen in Modellen empfehlen.

"Frei Otto. Denken in Modellen" bis 12. März 2017 im ZKM Karlsruhe, Lorenzstraße 19. Katalog ist noch nicht erschienen. Infos unter www.zkm.de

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