Architektur:Bauen fürs Denken

Landauf, landab sind in den vergangenen Jahren neue Universitätsgebäude entstanden. Aber wie sehen die neuen Lehrgebäude aus? Ein Besuch in Kassel und Osnabrück.

Von Till Briegleb

Trifft man Studenten tagsüber im Kino oder der Kirche, dann schwänzen sie vermutlich die Uni. In Kassel galt diese Regel allerdings schon länger nicht mehr. Denn Vorlesungen in der Auferstehungskirche oder vor der Leinwand des Cineplex gehörten in den letzten Jahren für manche Fachbereiche zum Alltag. Ein eklatanter Mangel an Hörsälen zwang die Studenten in die weichen Kinosessel und harten Kirchenbänke. Doch jetzt hat "Heureka" endlich auch den Kassler Katzensprung erreicht, die Kreuzung, an der die Hochschule in einem architektonisch sehr originellen, aber viel zu engen Campus untergebracht ist. Das gleichnamige Vier-Milliarden-Euro-Programm der Hessischen Landesregierung - dessen vollständigen Namen man extrem kompliziert so hingebogen hat, dass er abgekürzt den Ausruf des Archimedes ergibt - gönnt den Kassler Kino-und Kirchen-Studenten ein neues Hörsaalzentrum.

Es wurden in den vergangenen Jahren zahllose neue Universitätsgebäude in ganz Deutschland erbaut, denn nicht nur der ehemalige hessische Ministerpräsident Roland Koch rief irgendwann "Ich hab's" und wollte Hessen mit viel Geld zum "modernsten Hochschulstandort in Deutschland" ausbauen. Auch in Bayern, Berlin oder Niedersachsen floss (und fließt teilweise auch weiterhin) viel Geld in Universitätserweiterungen. Aber lässt man die vielen neuen Gebäude mal Revue passieren, dann finden sich darunter nur wenige Beispiele, die nicht auch als Bürogebäude, Messeeingang oder Siedlungsblock durchgingen.

Die Frage, was eine spezielle Architektur des Lernens und Forschens sei, also wie ein Gebäude inspirierend wirken könnte auf eine junge Kundschaft, für die es keinerlei zwingenden Zusammenhang zwischen Würfelarchitektur und aufklärerischer Gesinnung mehr gibt, wird von den meisten dieser Kisten weder gestellt, geschweige denn beantwortet. Der neue Campus der Frankfurter Goethe-Universität hinter Hans Poelzigs berühmtem IG-Farben-Komplex ist das prominenteste Beispiel für solch eine "zeitgenössische" Universitätslandschaft, die einem besseren Bürostandort zum Verwechseln ähnlich sieht.

Das neue Zentrum der Kassler Universität von raumzeit Architekten aus Berlin ist sicherlich auch kein Heureka ungewöhnlicher Architektureinfälle oder spielerischer Ambitionen, wie man sie etwa aus Utrecht, Wien und Lausanne kennt, oder die man aktuell in Gebäuden von Kim Utzon in Malmö oder in Singapur von UN Studio und Thomas Heatherwick erleben könnte. Aber das trapezförmige Lernzentrum mit seiner dezent gefalteten Haut und einem Atrium, das ein vielwinkliges Spiel mit Treppen, Balkonen und V-Stützen betreibt, ist für deutsche Verhältnisse beinahe divaesk. Das Abbilden der Hörsaalstruktur durch schräge Fensterbänder auf der matt glänzenden Aluminiumfassade, sowie die ungewöhnliche fünfeckige Grundform, die auf jeder Seite ein anderes Gesicht zeigt, setzt in dem sich noch weiter entwickelnden Campus einen Akzent kreativen Bauens.

Die Studenten mögen das gerade eröffnete Gebäude allerdings noch nicht so recht. Sichtbeton und Aluminium ergeben eben einen Grauklang, der auch durch popfarbige Foyermöbel sowie gelbe und grüne Hörsaalbestuhlung in seiner Dominanz kaum gebrochen wird. Allerdings sind die Kassler Studenten auch gewöhnt an die bezaubernde dörfliche Postmoderne, mit der in den Achtzigern auf dem Gelände einer ehemaligen Lok-Fabrik ihr wirklich heimeliger Backstein-Campus errichtet wurde. Hier ist der vitale Geist der Kommunikation zu spüren, der in dem neuen Hörsaalzentrum vermutlich auch deswegen schwer einzieht, weil es in seiner kühlen Großzügigkeit keinen Platz zum Verweilen bietet. Zudem zeigen seine großen Hörsäle die typische Architektur des Frontalunterrichts, der die Einwegkommunikation hierarchischer Lehrverhältnisse baulich festlegt.

Dieses starre Schema planer Sitzreihen vor einer Lehrkraft findet sich auch in dem neuen Hörsaalzentrum der Hochschule Osnabrück, das Benthem Crouwel letztes Jahr errichteten. Doch im Gegensatz zu Kassel hat das niederländische Büro in einer weit auskragenden grünen Hausnase eine innere Berglandschaft untergebracht, die offene Lernsituationen ermöglicht. Rund um ein helles Atrium erheben sich Treppenflächen mit Tischen in Form weißer Blitze garniert mit Hockern und Sitzkissen, deren einladende Geste von den Studenten sofort akzeptiert wurde.

Als Treffpunkt zwischen den Lehrveranstaltungen, zum Chillen, Flirten und für Arbeitsgruppen sind die holländischen Treppen bereits das geistige Zentrum dieses neu entstehenden Campus für 22 000 Studenten.

Doch abgesehen von diesem spektakulären grünen Bug - der in seiner Geste an das noch weit größer dimensionierte Flugdach des Rotterdamer Bahnhofs vom selben Büro erinnert - ist auch dieses Hörsaalzentrum ein relativ konventionelles Gebäude. Traditionelle Schachtelräume und Lichthöfe sowie eine Aluminiumfassade, die mit unterschiedlichen Fenstergrößen wie in Kassel die innere Struktur auf der Haut abbildet, belassen den Bau im Rahmen des Funktionellen - wobei es im Gegensatz zu der extrem monotonen Backsteinlochfassade der ebenfalls neuen Bibliothek nebenan beinahe wie ein Raumschiff aus den Anfängen des Science Fiction wirkt.

Die deutsche Nüchternheit im Universitätsbau, die sich so überhaupt nicht darauf einlassen will, dass das Lern- und Gesellschaftsleben nicht mehr so ist wie zur Zeit Konrad Adenauers, findet sich aber leider durch Versuche von "Künstlerarchitektur" eher in seiner Weigerung bestätigt, inspirierend zu bauen. Daniel Libeskinds Zentralgebäude der Lüneburger Stiftungsuni Leuphana mit seinen explodierenden Kosten von schlimmstenfalls 125 Millionen Euro und der fragwürdigen Nutzbarkeit seiner Splitterarchitektur spielt natürlich allen Architekten und Controllern in die Hände, die Abweichungen vom rechten Winkeln für Blödsinn halten.

Dabei würde ein Blick über die Landesgrenzen wie zurück in die europäische Vorkriegsarchitektur viele erfreuliche Beispiele liefern, wie die Erhabenheit von Kirchen mit dem Unterhaltungsfaktor des Kinos so in einem Lehrgebäude verbunden werden kann, dass die Architektur selbst eine Erziehungsleistung darstellt. Jedenfalls eine, die mehr mit der Beweglichkeit von Lernen und Denken zu tun hat als mit der Regalplatzordnung deutscher Lehranstalten.

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