Anton Kuh (XXIX):Der Zerrissene

SZ-Serie über große Journalisten (XXIX): Anton Kuh, Kaffeehausliterat und Stegreifredner

KLAUS PODAK

(SZ v. 23.06.2003)- Einen Artikel eröffnete er so: "Es onkelt in den Schachtelhalmen." Der Satz hat ihm gefallen. Er steht für sich allein. Dann kommt ein Absatz. Und weiter geht es mit fein gepfefferten Sätzen, die nicht etwa vom Onkel erzählen, sondern etwas umspielen, das man Onkelhaftigkeit nennen könnte. Es ist die Befindlichkeit schlau-gutmütiger Spießer, ekelhaft nett, verlogen tolerant. Von den Schachtelhalmen kein Wort mehr. Die spröden Pflanzen verdanken ihr Dasein im Text allein der Lust am Klang des ersten Satzes. Im letzten Absatz lässt er es noch einmal onkeln. Ganz knapp.

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Anton Kuh war 25 Jahre alt als dieser Artikel am 28.November 1915 im Prager Tagblatt erschien. Wer so schreibt, sich hinreißen lässt vom Sound und Rhythmus der Wörter, ist ein Sprachfex durch und durch, vertraut darauf, dass Sprache durch ihre sinnliche Kraft Wirklichkeit erleuchtet und durchsichtig macht. Und wer den ganzen Text gelesen hat, der wird die Onkelhaftigkeit überall wiedererkennen. Auch heute noch.

Der Journalist als Schriftsteller also - nicht rasender Reporter, der Fakten, Fakten, Fakten jagt und apportiert. Nicht Dichter, der neue Welten ersinnt und in ihnen die alte spiegelt. In den ersten Jahrzehnten des vorigenJahrhunderts gedieh dieser Typus vor allem auf den fruchtbringenden Böden der Kaffeehäuser Prags und Wiens, auch in Berlin, im Romanischen Café zum Beispiel, ist er gesichtet worden. Wegen dieser Brutstätten der Schreibekunst hat der schriftstellernde Journalist seine in den Ohren der Bourgeoisie (der Onkels) leicht anrüchig und doch verlockend klingende Typenbezeichnung verpasst bekommen: Kaffeehausliterat, der anscheinend nichts tut, während die Onkels ackern müssen. So einer - mit Monokel - war auch der Wiener Anton Kuh.

Kuh hat eine der hübschesten Definitionen dieses doch auch als Schmähung gemeinten Titels ersonnen. "Was ist ein Kaffeehausliterat? Ein Mensch, der Zeit hat, im Kaffeehaus über das nachzudenken, was die anderen draußen nicht erleben." Die Formel spielt, elegant, arrogant, den schon damals nicht mehr ganz zeitgemäßen Gegensatz zwischen Bürger und Bohemien durch. Auch der Bohemien war damals schon (und ist heute ganz und gar) Bürger. Er soff nur mehr.

Aber aus Kuhs Kaffeehausliteratenbestimmung lässt sich leicht ein Charakteristikum dieser ausgestorbenen Spielart des Journalismus extrahieren, das sie vollständig trifft - und unterscheidet von den Zwängen eines Großraumbüroschreiberdaseins. Nämlich: Zeit haben, über das nachzudenken, was andere (draußen) nicht erleben. Der Kaffeehausliterat fantasiert mit Wörtern. Weil er dabei nachdenkt, gelingen ihm manchmal realistische Fantasien. Wenn er es gut macht, gelingen ihm Bilder dessen, was kommt, was kommen könnte. Kuh war gut. Es kam Hitler. Zwei Wochen vor dem Einmarsch der Nazis in Wien hielt er dort seine letzte Stegreifrede. "Sind die Juden intelligent?" fragte der Kaffeehausliterat. Und gab die Antwort selbst: "Wenn ja, rettet euch! Es ist höchste Zeit!" Kuh floh, unterstützt vom Emergency Rescue Committee, in die USA.

Geboren wurde Anton Kuh am 12.Juli 1890 in Wien. Die Familie kam aus der deutschsprachigen jüdischen Oberschicht Prags. Der Vater war Journalist, Mitarbeiter und später Chefredakteur des Neuen Wiener Tagblatts, wodurch sich sein Sohn aber nicht zu entsprechenden Würden und sicherem Broterwerb verleiten ließ. Er fädelte sich frei und erfolgreich in die damals elektrisierende Wiener Denk- und Schreibszene ein, schon bald bewundert und gefürchtet wegen seiner nervös-pfeilschnellen Wort- und Wortwendeartistik. In "Umwortung" verwandelte er Nietzsches Verdikt von der Umwertung aller Werte. Nicht durch das Schreiben allein für die vielen der damals begierig studierten Feuilletons, in denen in Form von Fehden Öffentlichkeit entstand, machte er sich einen Namen und rekrutierte eine Anhängerschaft. Das freie Reden in vollen Vortragssälen wurde zu Kuhs unerreichter, kontrovers gefeierter Spezialdisziplin.

Als er Mitte der Zwanzigerjahre für kurze Zeit nach Berlin umzog, für den Querschnitt schrieb, das Tage-Buch, die Weltbühne, da setzte er auch mit Passion sein Stegreifredentalent ein, das ihm außerdem zu den dringend benötigten Honoraren verhalf. Nicht allen waren diese Auftritte geheuer. Tucholsky formulierte noch nett, Kuh sei ein "Sprechsteller". Schwer irritiert, verständnisarm zeigte sich Klaus Mann. Er sah nur "verzerrten Wiener Charme", sah "nervösen Elan" am Werk, wollte "äffische Bosheit", "Makaber-Fratzenhaftes" wahrgenommen haben. Kurz: Kuh konnte erschrecken.

Er litt am Verfall der bürgerlichen Kultur. Er sah ihren Untergang vor sich - und voraus. Er beschrieb voller Hohn die Symptome, die er unter den Intellektuellen ausmachte. Die Hellsichtigkeiten Ludwig Börnes und Friedrich Nietzsches hatten ihn trainiert. Er, natürlich, jedem faulen Pathos abhold, spielte sein Engagement herunter und schrieb: "Wie definieren Sie selber ihre Vortragskunst?" "Kurz und bündig: Ich habe damit ein Mittel ausfindig gemacht, wie man dem alten Intellektuellenlaster, den anderen nicht zu Wort kommen zu lassen, ungestört huldigen kann: indem man Entree dafür einhebt."

Grandios seine von Missverständnissen durchsetzte Stegreifrede gegen Karl Kraus im Jahr 1925 ("Der Affe Zarathustras"), die stenographisch festgehalten wurde. Es ging so tumultuös zu, dass Polizei im Saal eingreifen musste.

Aber dieser bildungsbürgerliche Kaffeehausliterat misstraute gründlich dem Geist, an dem er so blendend teilhatte, und seiner politischen Macht. Schon 1918 schrieb er in der kurzlebigen Nachkriegs-Wochenschrift Der Friede einen Essay "Der Geist marschiert". Da lesen wir: "Begreiflich auch, dass idealistische Schrullenköpfe immer wieder auf eine Organisation der Intelligenz verfallen. Aber wer da weiß, wie blöd die meisten Intelligenten sind, erklärt sich die Oberherrschaft der Gewalt (...) mit ihrer Zersplitterung. Immerhin, der Geist regt sich auch hier, rund um den Stephans-

turm. Aber es ist hier wie dort weder die richtige Regung noch der richtige Geist. Wäre er's - er müsste statt seines Namens ein Programm auf seine Fahne schreiben. Er wäre tätig, statt seinen Anspruch auf Tätigkeit anzumelden."

Gestorben ist Anton Kuh am 18.Januar 1941 in New York nach einem zweiten Herzinfarkt. Den Nachruf schrieb ihm Franz Werfel. Darin heißt es: "Noch vor wenigen Wochen hörte ich ihn das Wort haben, das Wort halten, nicht vom Wort lassen. Alle hingen an seinem Mund mit der größten Bereitschaft, gefangen zu sein..." Passender als der Schmunzeltitel eines Kaffeehausliteraten steht diesem heute immer noch aufregenden Journalisten der Titel eines Stücks des von ihm vergötterten Nestroy zu. Es heißt: Der Zerrissene.

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