Anthropozän:Die Zukunft ist auch nicht mehr, was sie mal war

The Inside Story of Modern Gasoline

Moleküle im Animationsfilm „The Inside Story of Modern Gasoline“.

(Foto: Fairbanks Inc.)

"1948 Unbound": 40 Wissenschaftler und Künstler untersuchen im Berliner Haus der Kulturen der Welt ein Schlüsseljahr. Damals veränderten und beschleunigten Ölboom, Gentechnik und Finanzwesen die Welt.

Von Jörg Häntzschel

"Mmmh! Riechen Sie mal!"- Wie bei einer Weinverkostung lassen die Wissenschaftler die Plastikflasche kreisen, stecken die Nase hinein, nicken. So herrlich duftet Rohöl, zumal dieses, von einem kleinen niederösterreichischen Bohrfeld. Und als sei es ihre Madeleine, entfalten sie aus dem sensorischen Erlebnis die Erinnerung an eine ganze Kultur im Untergehen.

Das war aber auch der einzige schwelgerische Moment der dreitägigen Konferenz "1948 Unbound", die 40 Wissenschaftler und Künstler im Berliner Haus der Kulturen der Welt versammelt hat. "Petromelancholie" lag in der Luft. Die einen, so die Mitglieder des Forscherkollektivs "Beauty of Oil", kommen damit gut zurecht: Sie führten in einer großartigen Revue Clips aus dem filmischen Subgenre vor, das sie "Petro Noir" nennen: Szenen kolonialer Grausamkeit und eruptierender Ölquellen, Spiegelbilder in schwarzen Pfützen, durchsetzt von der Propaganda der Konzerne. Anders geht es, so berichtete die "Petrokritikerin" Stephanie LeMenager, den amerikanischen "coal rollers", für die das Verbrennen von Öl mit Freiheit verbunden ist. Sie demontieren die Filter ihrer Pick-ups, frisieren die Motoren auf maximalen Verbrauch und hüllen ihre Feinde, linke Hybrid- und E-Autofahrer, in giftige Wolken.

Ansonsten diente der Blick in die Vergangenheit dazu, den Blick auf Gegenwart und Zukunft zu rekalibrieren. Denn, so HKW-Chef Bernd Scherer: "Unsere konzeptuellen Werkzeuge sind für Welten gemacht, die oft nicht mehr existieren."

Ausgelöscht haben wir sie selbst, durch die "Great Acceleration", die große Beschleunigung, mit der der Mensch das Ende der Dichotomie von Kultur und Natur besiegelt hat. Das Anthropozän ist angebrochen, das Zeitalter des Menschen. Es gibt keinen Ort mehr, den der Mensch nicht für immer verändert hat: durch radioaktive Isotope, Schwermetalle, Plastikmüll. Er staut nicht nur Flüsse oder rodet Wälder, sondern produziert Stürme, Dürren - das Klima.

Diese Dynamik macht viele Methoden unbrauchbar, mit denen die Menschheit seit dem Beginn der Moderne ihr Geschick managt. Darunter die Berechnung von zukünftigen Risiken durch die Erfahrung vergangener Ereignisse. Die Versicherungsbranche etwa gründet ihr Geschäftsmodell auf diese Hochrechnungen. Für heutige Katastrophen - Fukushima, New Orleans, Houston - gibt es keine Vorläufer.

Ein Schlüsseljahr für die große Beschleunigung war 1948. Um dieses Jahr herum nahm nicht nur der Boom des Öls seinen Anfang, auch die Gentechnik, die Kybernetik und die Entfesselung des Finanzwesens. Bei vielem davon handelt es sich um die Adaption von Kriegstechniken für die zivile Konsumgesellschaft. Zivile Technologien wiederum wurden im Systemwettbewerb des Kalten Kriegs politisch instrumentalisiert.

Viel wichtiger aber: Die Wissenschaft hörte auf, zu analysieren und zu beschreiben, und begann zu synthetisieren. Der Mensch baute seine eigene Welt: Aus Genen, Daten, Kunststoff und Nitroglyzerin. Die Konferenz nahm die Genealogie dieser Technologien in den Blick, um sie besser zu verstehen, aber auch um zu erklären, welchen historischen Konstellationen sie entstammen und wie die Geschichte auch anders hätte verlaufen können. Alternativlos sind sie alle nicht.

Ein Beispiel sind die unterschiedlichen Wege, die die Sowjetunion und die USA einschlugen, um die Erträge in der Landwirtschaft zu steigern. Während die amerikanischen Forscher das Erbgut der Nutzpflanzen manipulierten, veränderten die Sowjets die Landschaft: Ersteres trug zum Wohlstandsboom der Nachkriegszeit bei, Letzteres verursachte viele Tote. Stalins fantastische Aufforstungsprogramme erwiesen sich als katastrophale Pleite. Doch wer wüsste heute zu sagen, ob er morgen recht behält? "Vielleicht leben wir unter einem ähnlichen Denkregime wie die Sowjets und sind uns dessen nur nicht bewusst", meinte der Genforscher Arren Bar-Even.

Denkregime scheinen weniger das Problem zu sein als Blindheit. Mit ein paar Grafiken zeigt Bar-Even, dass die Fortschritte in der Landwirtschaft seit Langem nicht mehr mit dem Wachstum der Weltbevölkerung mithalten; dass das Verhungern von Millionen Menschen also bald nicht mehr ein katastrophales Ereignis sein wird, sondern Dauerzustand. Akzeptieren wir diese Tatsache, oder nehmen wir die Risiken der Gentechnik auf uns?

Für die Pflanzen-Ingenieurin Helena Shomar ist Gentechnik weniger eine Gefahr für die Gesundheit, sondern eine wissenschaftliche Herausforderung - Pflanzen sind "chaotisch" und komplexer als alles, was der Mensch je gemacht hat - und ein politisch-ökomonomisches Problem: Sie träumt von einer Zukunft, in der die Macht von Monsanto gebrochen ist und jeder nach Gutdünken seine eigenen Pflanzen und Tiere bastelt.

Doch wo liegen die Grenzen zwischen natürlich und synthetisch? Ab wann sind Pflanzen Maschinen? Würden die Gentechnik-Apologeten auch ins menschliche Erbgut eingreifen? "China wird es sowieso tun", sagt Bar-Even: "Die Frage ist, wie wir uns auf eine Welt vorbereiten, in der das Realität ist."

Dasselbe wird, so der kalifornische Theoretiker Benjamin Bratton, für die chinesischen Sozialkreditprogramme gelten, die von 2020 an im ganzen Land eingeführt werden. Die digitalen Punktesysteme also, die von der Partei definiertes soziales Wohlverhalten belohnen, indem sie alle Kanäle der Existenz, vom Wohnen und Arbeiten bis zu Posts in sozialen Netzwerken in einem Superregister zusammenführen.

Chinas umstrittene Sozialkreditprogramme hatten ihre Vorläufer im Westen

"China wird das System über seine Infrastrukturprogramme in Asien und Afrika einführen", so Bratton. In so einem Regime leben zu müssen, ist eine schauderhafte Vorstellung. "Kredit" ist hier ein Euphemismus für soziale Schuld, die jeder fortwährend zurückzahlen muss. Doch es ist der Westen, der diese Systeme erfunden hat: mit den "tokens", mit Lebensmittelmarken, Gutscheinen und anderen symbolischen Wertsystemen, die im Lauf der Jahrzehnte zu Instrumenten des social engineering wurden.

Die Zukunft entgleitet uns auf doppelte Weise. Zum einen versagen die in der Moderne entwickelten Methoden, sie vorherzusagen. Zum anderen, so die Soziologin Elena Esposito, übernehmen die Vorhersagen oft Algorithmen, die noch mehr als der Mensch Zukünftiges nur aus Vergangenem hochrechnen. Und zwar nicht als statistische Wahrscheinlichkeit, sondern als individuelle Vorhersage, die fließend in die Steuerung von Zukunft übergeht: Amazon lässt uns Bücher kaufen, von denen die Algorithmen glauben, dass wir sie kaufen könnten. "Schon bald werden wir vielleicht nicht mehr über die Einmischung von Facebook bei den Wahlen diskutieren, sondern über die staatliche Einmischung in den Wahlen von Facebook", so Bratton.

Doch nicht nur die Hellsichtigkeit der Kritik machte die Brillanz dieser Konferenz aus, sondern wie es ihr gelang, entlegene Bereiche zusammenzuführen und die Gegenstände in mimetischer Annäherung darzustellen. Als es etwa um "Switches" ging, liefen vier Diskussionen gleichzeitig, wurden gefilmt und auf vier Leinwänden abgespielt: Je nach Multitasking-Vermögen konnte man darin Metaphern für standardisierte Datenpakete verstehen oder für den Noise, in dem wir leben. Der Abend zu "Chance" wurde von einem Zufallsgenerator gestört, der die Powerpoint-Slides hinter synthetisch generierten Landschaften verbarg. Doch was Zufall, was Determination ist, wusste man in diesem Moment ohnehin nicht mehr. Der Performer Nahum hatte diese Differenz mit Feuer, Asche und einem Buch voller Zahlen weggezaubert.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: