Anthologie:Verdauung mit Musik

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Dem Irrsinn auf die Schliche gekommen: die Urmünchner Komiker und Volkssänger Karl Valentin (links) und Weiß Ferdl. (Foto: SZ Photo/S.M.)

Trikont: "Der Irrsinn" als Ausdruck der "Stimme Bayerns"

Von Christian Jooß-Bernau, München

"Grüß Gott!" Die Dame öffnet die Tür. "Ah", erkennt sie ihn: "Sind Sie der Ausgeher von der Vogelhandlung?" "Ja", antwortet er, "ja, sind Sie zuhaus'?" Der Dialog ist Auftakt einer Nummer von Karl Valentin und Liesl Karlstadt, und er eröffnet die neue CD in der Trikont-Reihe "Stimmen Bayerns". Fünf Sekunden hat es gedauert, da hängt das Gespräch schon schief - auch ein Beispiel für die sprachliche Effizienz Valentins, der als Ausgeher der Vogelhandlung im Weiteren zwar einen Käfig liefert, aber ohne Vogel, wie die Dame bemerkt. Dies aber, so der Ausgeher, könne nicht sein, weil das Türl zu und außerdem der Vogel auf der Rechnung ausgewiesen sei. Das Faktische und das Logische gehen nicht in eins, und zwischen beiden entsteht ein Strudel, der die Gewissheit mit hinabzieht.

"Der Irrsinn" heißt die neue Folge der "Stimmen Bayerns". Es ist der fünfte Teil der assoziativ-enzyklopädischen Reihe, die das Wesen dieses komischen Volkes so klangfassbar macht, dass es selbst den Norden interessiert. "Wie machen die das da nur im Süden? So fragt der neidische Saupreiß", wunderte sich schon 2011 Die Zeit in einer Besprechung. Die "Stimmen Bayerns" sind Tonarchive aus Radiomitschnitten, Liedern, Eingelesenem, Hörspiel, O-Ton - kurz, Hörarchiv, das aus der aufgezeichneten Vergangenheit bis ins Heute reicht. Verantwortlich dafür sind die beiden Trikont-Chefs Eva Mair-Holmes und Achim Bergmann - und Andreas Koll, der seinerzeit schon die Großtat der Karl-Valentin-Hörgesamtausgabe vollbrachte.

Liebe, Tod, Rausch und Freiheit waren bis jetzt die Themen, wobei es Letztere gleich auf eine Doppel-CD brachte. Jetzt versucht man zu ergründen, wie das tut, wenn den bayerischen Sinnen die Welt entgleitet. Naturgemäß lässt sich die Abwesenheit schwer greifen, aber intensiv erfahren. So wie mit der Lyrikerin Nora Gomringer, die ihren "Bamberger Irrsinn", von Schlagzeuger Philipp Scholz mit psychoaktiven Sounds, zäh wie Honig, begleitet, zu einer Sinneserfahrung des Fränkischen macht. Jazzrhythmisch zappelnd hat Herausgeber Andreas Koll, der auch Mitglied der Gruppe Um a Fünferl a Durchanand ist, einen Auftritt mit "Oben rein, unten raus". Einer sehr stimmigen und wundersam reduzierten Betrachtung des menschlichen Verdauungsapparates, die mit Musik noch viel informativer wirkt. 28 Fundstücke reihen sich hier aneinander. Jörg Maurers zittrig irre Geschichte vom Millikandl steht neben Hans Söllners Betrachtung des Wesens eines Gerichtsprozesses. Und der Weiß Ferdl singt "I woas ned wia ma is". Mal drückt der Irrsinn den Vortragenden wie Bauchweh, mal blickt man von außen auf seine Muster. Mal mischt er sich zur Täuschung, mal überkommt er einen wie eine Hirnbefreiung. Immer aber hat er etwas sehr spezifisch Bayerisches, und man kann ihn sich so, in genau dieser Form, nur in dieser Sprache vorstellen.

Auch Günther Beckstein wird einem nicht erspart, bei einem Auftritt im Gillamoos-Bierzelt. "Das Kruzifix bleibt in den Klassenzimmern, aber der Schleier und das Kopftuch kommt raus", deliriert er da schon grammatikalisch schief. Das grölende Publikum zeigt, dass die Kombination von Bier und Demagogie geradewegs zum Irrsinn führt. Und der ist hier keine Comedy. Die härteste Nummer des Albums kommt von Ida Schumacher, der Ratschkathl, die am Viktualienmarkt ihren Brunnen hat. "Frau Ratschenbichlers wöchentlicher Unfall" heißt sie und zeigt, wie die Zeit vergeht und dass das, was 1951 Humor war, heute entsetzlich sein kann. Der Spaß besteht darin, dass Frau Ratschenbichler seit dem 6. März '31, ihrem Hochzeitstag, von ihrem Mann verdroschen wird. Wöchentlich. Jeden Freitag am Zahltag. Wegen des Haushaltsgeldes. Die finale Pointe: Seit er bei der Post ist, wird Frau Ratschenbichler nur noch alle vier Wochen verprügelt. Ihr Mann wird nämlich jetzt monatlich ausgezahlt. Irrsinn oder nicht, das ist eben auch eine Frage der gesellschaftlichen Übereinkunft. Wer sich heute normal fühlt, über den schüttelt man vielleicht morgen den Kopf.

© SZ vom 19.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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