Anthologie:Stehgeiger in der Versfabrik

Erich Kästners Erzählungen handeln von den Dramen des Alltags - eine Auswahl ist nun unter dem Titel "Der Herr aus Glas" erschienen.

Von Hilmar Klute

Wenn man einmal zum literarischen Klassiker geworden ist, hört die Nachwelt nicht auf, am nachgelassenen Werk und an der Biografie herumzuzuzeln und zu schrauben. Bei Erich Kästner scheint das gerade erst anzufangen, denn vierzig Jahre nach dem Tod des Schriftstellers möchten manche wissen: War der Mann wirklich so unerschütterlich in seinen Grundsätzen wie ein fest im Boden verwurzelter Baum, einer, der allen Versuchungen des Dritten Reichs trotzte; der damals in Deutschland blieb, um Zeugnis abzulegen und auch deshalb nach dem Krieg eine moralische Instanz wurde wie nach ihm nur noch Heinrich Böll und, bis zum Eingeständnis seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS, auch Günter Grass?

Kästner hat sich in der jungen Bundesrepublik gerne als Mahner und Erzieher empfohlen, und seine wortkargen und etwas steifen Interviewäußerungen gaben ihm etwas von einer Amtsperson des nicht korrumpierbaren Gewissens. Er hat sich als Schriftsteller gewissermaßen institutionalisiert, allerdings wurde in seinen späten Jahren nur noch wenig über sein bedeutsames Werk geredet, das ja hauptsächlich vor der NS-Zeit entstanden war.

Erich Kästner leitete in den Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren eine sogenannte Versfabrik. Gemeinsam mit seiner Sekretärin Elfriede Mechnig weckte er per Angebot die Nachfrage nach seinen epigrammatischen und hemdsärmelig ironischen Gedichten. Die Zeitungen, von denen die meisten damals literarischen Texten großen Platz einräumten, druckten Kästners Gedichte gerne ab, denn dieser Autor war auf elegant-jugendliche Art großstadtmodern.

Dass Kästner sogar ein literarischer Großunternehmer war, zeigen die 140 Erzählungen, von denen der Germanist und Kästner-Forscher Sven Hanuschek nun eine Auswahl von 42 Texten herausgegeben hat. Manches kennt man, vieles erscheint in "Der Herr aus Glas" zum ersten Mal in Buchform. Es finden sich Humoresken neben ernsten Sozialgeschichten; feine Psychogramme wie die anrührende Stiefmutter-Geschichte "Zwei Mütter und ein Kind" stehen in Gesellschaft mit Außenseiterepisoden wie der Titelgeschichte, die beinahe ein kleine Kästnersche Poetologie darstellt. Der feinnervige Dichter Jarosmin scheitert im Schreiben und im Leben, weil er beide Vorgänge nicht zusammenbringt: "Er verstand sich darauf, kleine Bücher zu schreiben, deren Herstellung ihm durch Kenntnis vorbildlicher Schriftsteller und durch Unkenntnis des Lebens sehr leicht von der Hand ging."

Erich Kästner, 1949

Als "Volksschullehrer" bezeichnete sich Erich Kästner auch. Hier liest er 1949 in der Internationalen Jugendbibliothek in München.

(Foto: Alfred Strobel)

Die Botschaft ist unmissverständlich: Nur wer als Autor im Lebensgetriebe aufgerieben wird, hat das Recht und die Gabe, Bücher zu schreiben. Allerdings: Die Kenntnis vorbildlicher Schriftsteller machte sich auch Erich Kästner zunutze. Er schrieb seine Erzählung "Der Hungerkünstler" wenige Jahre nach Kafkas fast titelgleichem Prosastück. Sven Hanuschek stellt in seinem Nachwort fest, "dass Kästner überhaupt Kafka gelesen hatte, und das zu einem Zeitpunkt, als dieser noch ganz unbekannt war, ist immerhin erstaunlich". Andererseits: War Kästner nicht ohnehin ein literarisch gebildeter Autor und zudem ein gut informierter Kulturjournalist, dem die Kafka-Elogen Kurt Tucholskys, Hermann Hesses und Robert Walsers nicht entgangen sein dürften?

Wie auch immer: Kästner führt in diesen Erzählungen die mittleren bis großen Dramen des Alltags auf, die Katastrophen der Ungleichheit, die nicht selten im Selbstmord enden wie bei dem namenlosen Mann in der Geschichte "Ein Menschenleben", der seine Arbeit verliert und als erbärmlicher Stehgeiger in ein entferntes Stadtviertel geht, um sich von barmherzigen Bürgern mit einer warme Suppe versorgen zu lassen: "Es tat ihm nicht gut, den ganzen Tag seine Kinderlieder zu geigen." Am Ende hängt er sich auf.

Mit Selbstmord endet auch das Leben von Peter Sturz, dem 28 Jahre alten Metallarbeiter aus "Inferno im Hotel". Sturz - Kästner liebt das Spiel mit sprechenden Namen - hat ein Preisausschreiben gewonnen und darf zwei Wochen in einem Luxushotel in Tirol verbringen. Dort verachtet man den Gast aus der Unterschicht, man mobbt und demütigt ihn so lange, bis der traurige, aber kräftige Proletarier schließlich einen seiner Peiniger niederschlägt. Es ist eine starke Geschichte, voll subtiler Spannung und psychologischer Ernsthaftigkeit.

Anthologie: Erich Kästner: Der Herr aus Glas. Erzählungen. Atrium Verlag, Zürich 2015. 304 Seiten, 22,99 Euro. E-Book 18,99 Euro.

Erich Kästner: Der Herr aus Glas. Erzählungen. Atrium Verlag, Zürich 2015. 304 Seiten, 22,99 Euro. E-Book 18,99 Euro.

Anfang 1940, der Autor war seit Jahren verboten und lebte von der Arbeit an Drehbüchern und Theaterstücken, schrieb Kästner seine "Briefe an mich selber". Man könnte sie als Selbstbefragungen des Moralisten lesen: Kommt man mit gutem Gewissen weiter, macht der Weltverbesserer die Welt wirklich besser oder anders gesagt: Ist der Volksschullehrer, wie Kästner sich nennt, vielleicht doch eher fehl am Platz, wenn das Volk sich nicht belehren lassen will? Die Briefe sind in der Absicht geschrieben, ihren Verfasser auf selbstironische Weise fragwürdig erscheinen zu lassen. Am Ende bestaunt man das Profil des vornehmen Kulturaristokraten, der letzten Endes an der Dummheit der Menschen gescheitert ist: "Es ist eine Anmaßung, die Welt, und eine Zumutung, die Menschen veredeln zu wollen", schreibt Kästner.

Natürlich gerät man leicht in Versuchung, jeden Text Kästners als Parabel auf seine damalige Verfasstheit zu betrachten, zumal er gelegentlich die Form des Märchens und der Legende wählt: "Paula vorm Haus" erzählt von einem Mädchen, das anstelle von Füßen mit Wurzeln ausgestattet ist und sein trauriges Leben im Garten vorm Haus der Eltern fristen muss. Eine Geschichte voller Anleihen aus der Mythologie, geheimnisvoll und anrührend erzählt. Aber: Ein Bild für die innere Emigration? Sven Hanuschek zeigt, dass er der bequemen Deutungsautomatik nicht traut, weil der Text, wie er schreibt, nicht genügend Signale für diese Lesart liefere.

Die Geschichten Erich Kästners sind mehr als der Brotenebenerwerb eines großen Lyrikers und keineswegs als lockere Fingerübungen des Romanautors zu seinem größten Erfolg "Fabian" zu lesen. Sie sind all das, was man von Erich Kästner erwartet: unterhaltsam, lustig, ernsthaft mahnend und grotesk überspitzend. Und trotzdem hat jede dieser Geschichten ein anderes, ein eigenes Tempo; wo sie sehr ernst sind, staunt man über die Tragödienkunst des Humoristen; wo sie grotesk sind wie in den "Reisen des Amfortas Kluge", erinnern sie an die versnobte Weltbelustigung des englischen Romanciers Evelyn Waugh. Dass ein Schriftsteller wie Erich Kästner, den man so gut zu kennen glaubte, einen tatsächlich noch überraschen kann, ist ganz fabelhaft.

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