"Anonymus" im Kino:Shakespeare - nur ein Strohmann?

Roland Emmerich spinnt in seinem neuen Film "Anonymus" ein faustdickes Garn der Verschwörungstheorien um William Shakespeare. Auf schmalem Grat zwischen Fakten und Fiktion entfacht er aufs Neue die Diskussion um die Identität des Dramatiker-Genies.

Christopher Schmidt

Ein Mann rennt im strömenden Regen durch die Gassen von London, die so schlammig sind, dass er von einer Laufplanke zur nächsten hastet, und er rennt um sein Leben. Gehetzt von den Schergen der city fathers, rettet er sich in das ehrwürdige Globe Theatre, die Shakespeare-Bühne - hochsymbolischer Ort der freien Rede und Zufluchtsstätte aller wahren Patrioten.

Das Bündel, das der Verfolgte unter seinem Umhang birgt, es ist kein Kind, nicht der von Meuchelmördern bedrohte legitime Thronfolger Englands, sondern eine speckige Mappe mit Manuskripten, die er in einer Truhe im Unterboden der Bühne versteckt. Dann brennen die Häscher das Theater nieder, ergreifen den Missetäter und schleifen ihn in den Tower, zum peinlichen Verhör im Widerschein glühender Zangen.

So beginnt Roland Emmerichs Shakespeare-Film "Anonymus", und er endet damit, dass der Mann, der in der ersten Szene vor der Staatsmacht floh, in der rauchenden Ruine des Theaters ebenso unverhofft wie unversehrt jene Kladde wiederfindet, welche die unsterblichen letzten Werke ihres Verfassers enthalten: Edward de Vere, der 17. Earl of Oxford, der schon zehn Jahre tot war, bevor sich Shakespeare vom Theater zurückzog und deshalb auf Vorrat geschrieben haben müsste.

Dass dieser elisabethanische Edelmann 37 Dramen geschrieben habe und sich eines Strohmannes namens Shakespeare bediente, um sie auf die Bühne zu bringen, ist die seit 90 Jahren herumspukende Verschwörungstheorie, aus der Roland Emmerich ein opulentes Historiendrama gemacht hat. Bereits vor dem Kinostart hat dieses Sakrileg am englischen Nationalerbe einen Tsunami der Empörung ausgelöst.

Aber die finale Wendung, die wundersame Rettung der Handschriften, ist nicht nur ein filmischer Twist, sondern ein wichtiges Detail in einer langen Beweiskette. Emmerich will die "Oxford-These", die erstmals 1920 von dem nordenglischen Laienprediger J. Thomas Looney aufgebracht wurde und prominente Anhänger wie Sigmund Freud fand, erhärten. Und es gibt viele Szenen im Film, die dramaturgisch entbehrlich sind, aber gebraucht werden, weil sie Standardeinwände der Gegner, der sogenannten Stratfordianer, entkräften und die Fraktion der Oxfordianer stärken sollen.

Dabei räumt Emmerich im Interview mit dieser Zeitung freimütig ein, von seiner "dramatic licence" weidlich Gebrauch gemacht und sich die historischen Fakten so zurechtgeschnitzt zu haben, wie er sie als Storyteller brauchte. So nennt er es eine "Relativierung", dass der Film einen Prolog hat, in dem ein Schauspieler auf eine Bühne tritt. Wenn der Vorhang aufgeht, beginnt das Stück-im-Stück, eine Phantasmagorie, derzufolge die Politik den Earl of Oxford bewogen habe, seine Autorschaft zu verleugnen.

Dass dieser Schauspieler allerdings kein Geringerer ist als der gefeierte britische Shakespeare-Darsteller Derek Jacobi, der sich mit einer Ehrenerklärung zu seinem Zweifel an Shakespeares Verfasserschaft bekannte, relativiert wiederum die Relativierung - und auf diesem schmalen Grat zwischen fact und fiction tänzelt Roland Emmerich professionell.

Verwüstung in die Reihen der Stratfordians

Mit einem für seine Verhältnisse lumpig budgetierten Film, den er, so Emmerich, rein aus Passion gemacht habe, ohne sich selbst eine Gage auszuzahlen, hat der Mann, der sich als Master of Desaster seinen Weg nach Hollywood buchstäblich freibombte, ein Erdbeben ausgelöst, wie ihm das mit seinen Katastrophen-Filmen nicht gelungen ist.

Kinostarts - 'Anonymus'

Edward de Vere (Campbell Bower, links) und Prinzessin Elisabeth Tudor (Joely Richardson): Welche Rolle spielten die Zeitgenossen William Shakespeares tatsächlich?

(Foto: dpa)

Schon fordern aufgebrachte Anhänger der reinen Lehre, den Deutschen in den Tower zu werfen. Die Einwohner von Stratford-upon-Avon, wo Shakespeare ein Standortfaktor ist, verhüllten aus Protest alle Hinweisschilder auf ihren großen Sohn, Teile der britischen Presse wälzen sich in antideutschen Ressentiments, erinnern daran, dass das Machwerk in Babelsberg gedreht worden sei, dem Studio, das 1933 von den Nazis übernommen worden sei - schlimme Erinnerungen an die V-2-Rakete schießen da hoch.

Seine amerikanische University-Tour mit dem Film, erzählt Emmerich, habe eine Schneise der Verwüstung in die Reihen der Stratfordians geschlagen. Dadurch vorgewarnt, stellt sich Emmerich nun tapfer der Diskussion mit der Shakespeare-Forschung und trägt im Internet zehn Gründe vor, "why Shakespeare is a fraud" - warum Shakespeare ein Schwindler ist, wobei er nach jedem Argument einen Gänsekiel auf den Cartoon des Hochstaplers abfeuert. Emmerich weiß nur zu gut, dass es anders als bei seinem Biopic über Godzilla diesmal der mögliche Wahrheitsgehalt ist, der die PR-Maschine schmiert.

Was Emmerichs "zehn Gründe" angeht - diese sind sattsam bekannt, auch wenn die Oxford Society, eine arkane Gegenkirche zur Shakespeare-Gesellschaft, sie noch so oft wiederholt. Und diese Argumente illustriert der Film mit einer deutschen Gründlichkeit, die um so müßiger erscheint, als er sich ausgerechnet zur sogenannten Baby-Variante der Prince-Tudor-Theorie versteigt, vor der selbst Oxfordianer schaudernd zurückschrecken. Diesem Aberglauben zufolge sei der Earl of Oxford sowohl der uneheliche Sohn der Königin Elizabeth I. gewesen als auch ihr späterer Liebhaber - und habe mit ihr einen weiteren Bastard gezeugt, den Earl of Southhampton.

Obwohl dieser von Xavier Samuel mit wallenden Locken durchaus effeminiert dargestellt wird und die Männerfreundschaft der beiden Earls das übliche Maß an Innigkeit übersteigt, lässt es Emmerich offen, ob dieser zugleich identisch ist mit dem Adressaten der homoerotischen Anrufungen in den Sonetten - womit der Dreifach-Inzest komplett gewesen wäre. Natürlich ahnt Edward nicht, dass sein treuester Gefährte im Kampf gegen die Intriganten bei Hofe, die den Schotten James auf den Thron hieven wollen, sein eigener Sohn und Halbbruder ist. Bis die Queen herself ihm zu guter Letzt die Augen öffnet über seine königliche Abkunft.

Denn die blutschänderische genealogische Konstruktion ist filmisch darum so ergiebig, weil aus ihr folgt, dass der Mann, der Shakespeares Stücke schrieb, der rechtmäßige Thronfolger der kinderlosen Elizabeth gewesen wäre. Man denke: Shakespeare - kein Sohn eines einfachen Handschuhmachers vom Lande, sondern ein König! Da wären wir wieder bei dem Nationalisten Looney, mit dem alles anfing. Dessen Oxford-These war ja der Sehnsucht nach einer charismatischen vaterländischen Führerfigur entsprungen, gegen die Auflösungserscheinungen des frühen 20. Jahrhunderts herbeiphantasiert.

Im Film wird der Aufstand der Anständigen niederkartätscht, um wieder zur historischen Wahrheit zurückzuschwenken, aber auch - so realistisch ist Emmerich dann doch - weil dieser elisabethanische Dichterfürst alles andere als ein Tatmensch ist. Vielmehr bringt da eine zarte Künstlerseele im Schaffensrausch zu Papier, was die innere Stimme ihr einflüstert.

Aus der Prosa des Alltags entflieht der Edelmann in die Traumwelten der Dichtung. Rhys Ifans spielt ihn als müden Melancholiker, der sich, versteckt in einer Theaterloge, nur inkognito daran ergötzen darf, wie sich das Volk an seinen göttlichen Worten labt, und es mit geschmerztem Lächeln hinnimmt, dass sein Strohmann den Applaus und den Ruhm erntet, der eigentlich ihm gebührt.

Hinreißend aasiger Schurke

Themendienst Kino: Anonymus

Geht es nach Roland Emmerich, wird William Shakespeare (Rafe Spall, im Bild) heute zu Unrecht gefeiert - er hatte einen genialen Ghostwriter.

(Foto: dapd)

Früh wird er von der Königin gefördert, die ihn erst in ihr Bett holt, nachdem Edward ihr von seinen Erfahrungen mit heißblütigen Italienerinnen erzählt hat - womit auch das notorische Argument, Shakespeare müsse in Italien gewesen sei, abgehakt wäre.

Ein faustischer Universalgelehrter ist das, beschlagen in allen Wissenschaften, und geplagt von einer zänkischen Ehefrau, die mit strengem Blick auf Edwards stets tintenverschmierte Hand quittiert, dass ihr Liebling sich heimlich wieder vollgemacht hat. In der Einsamkeit seiner Studierklause bannt dieses echt romantische Originalgenie weniger, was seine Phantasie, als das, was persönliches Erleben ihm eingegeben hat.

Immer wieder spiegelt der Film Szenen aus Shakespeares Dramen ins Biographische zurück: Der erdolchte Polonius hinterm Vorhang aus "Hamlet" - das war, als sein Vormund einen Spion in seine Schreibstube einschleuste. Und Edward benutzt das neue Medium Theater als Sprachrohr, um politisch einzugreifen. Mit seinem "Henry V." schürt er den Franzosenhass, mit "Richard III." führt er die Massen zur offenen Rebellion gegen die Machenschaften des buckligen Robert Cecil - Robert Hogg spielt ihn als hinreißend aasigen Schurken aus Eifersucht. Mit seinen Worten verführt der Earl sein Königreich und seine Königin. Während Elizabeth Edwards Hosenstall aufnestelt, ejakuliert er hohe Lyrik.

Und William Shakespeare? Er ist bei Rafe Spall eine Knallcharge, ein schlitzohriger Säufer und Hurenbock, der Ben Jonson das Geheimnis der wahren Autorschaft abringt, um Edward de Vere zu erpressen - und der nicht einmal seinen Namen schreiben kann. Shakespeares Töchter waren bekanntlich Analphabetinnen, ein weiterer Stich Emmerichs.

Rühmen muss man das Bild von Elizabeth I., das der Film zeichnet. Bei Joely Richardson als junger und Vanessa Redgrave als alter Königin ist sie nicht die virgin queen, als die sie üblicherweise gezeigt wird, sondern eine temperamentvolle Frau von kindischem Übermut. "You got her right", habe Vanessa Redgrave gesagt, als sie das Drehbuch gelesen hatte, so Emmerich: "Sie war eitel, kleinmädchenhaft und mannstoll." Die vielen Zeitsprünge verkomplizieren allerdings die ohnehin arg verschlungenen Handlungsfäden um Dichtung und Wahrheit, Herz und Krone, aus denen Roland Emmerich sein faustdickes Garn spinnt. Und dabei bleibt er bei aller Schwerfälligkeit auch noch ziemlich humorlos. Nur am Schluss gibt es eine amüsante Volte: Obwohl der Schweiß der Edlen nicht verhindern kann, dass der Falsche gekrönt wird, trägt der Dichter den moralischen Sieg davon.

Der schottische James erweist sich nämlich als ausgesprochener Theaternarr und glühender Verehrer Shakespeares. Immerhin, James' Theaterleidenschaft ist historisch verbürgt. Eines aber kann der Film nicht erklären: Weshalb der Earl of Oxford, der tatsächlich Literat war, ausgerechnet seine schlechteren Arbeiten unter dem eigenen Namen veröffentlichte, die genialen jedoch unter dem Pseudonym William Shakespeare.

ANONYMUS, GB/D 2011 - Regie: Roland Emmerich. Drehbuch: John Orloff. Kamera: Anna Foerster. Schnitt: Peter R. Adam. Mit: Rhys Ifans, Vanessa Redgrave, Joely Richardson, Rafe Spall. Verleih: Sony Pictures, 130 Minuten.

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