Anne Will zum Fall Yücel:Erdoğan, der böse Geist am Bildschirm

Anne Will; Anne Will am 6.03.2017

Justizminister Heiko Maas (mittig) und der Journalist Can Dündar in der Talkshow Anne Will vom 5.03.2017.

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Bei "Anne Will" diskutieren die Teilnehmer, wie Deutschland mit der autokratischen Türkei umgehen soll. Und zeigen auf erschreckende Art, wie man es nicht machen sollte.

TV-Kritik von Benedikt Peters

Auf eine spezielle Art ist der Mann, um den sich an diesem Abend alles dreht, höchstpersönlich anwesend. Recep Tayyip Erdoğan schwebt als böser Geist über der Diskussionsrunde, zu der Anne Will an diesem Abend geladen hat. Nein, nicht sinnbildlich. Er schwebt dort tatsächlich.

Die Bildschirme im TV-Studio, die über den Köpfen der Diskutanten an der Wand befestigt sind, blenden den türkischen Präsidenten immer wieder ein. Finsterer Blick. Grimmig verzogene Mundwinkel. Und die Arme hochgerissen, wie zur Beschwörung. Dass das ein Problem ist, wird sich im Verlauf der Sendung noch zeigen.

Bei der Auswahl des Themas hat die Anne-Will-Redaktion eigentlich ein gutes Gespür bewiesen. "Krise zwischen Berlin und Ankara - wie umgehen mit Erdoğans Türkei?" So hat die Redaktion es schon vor Tagen festgelegt, obwohl sie da noch nicht wissen konnte, wie heftig sich die Krise zuspitzen würde.

Nach der Verhängung von Untersuchungshaft gegen den Welt-Korrespondenten Deniz Yücel und der Absage von Wahlkampfauftritten türkischer Regierungspolitiker in mehreren deutschen Städten hatte Erdoğan erst am Tag der Sendung für die bisher höchste Eskalationsstufe gesorgt. Er warf der Bundesregierung "Nazi-Praktiken" vor und drohte, er sei bereit, sich im Zweifel über deren Willen hinwegzusetzen und in Deutschland aufzutreten.

Das Gespür hat die Anne-Will-Redaktion jedoch leider bei der Auswahl der Diskutanten verlassen. Nicht, dass sie für sich genommen nicht spannend wären. Can Dündar ist da, der ehemalige Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet, der 2015 wegen kritischer Berichterstattung in der Türkei inhaftiert wurde. Zur Situation des Korrespondenten Yücel und zur Lage in der Türkei kann er Erhellendes beitragen.

Mit Heiko Maas (SPD), Armin Laschet (CDU) und Sevim Dağdelen (Linke) ist das politische Spektrum der Bundesrepublik recht gut repräsentiert - und alle drei sind zudem von der diplomatischen Krise zwischen Ankara und Berlin auf ihre Art betroffen. Maas spricht als Justizminister für die Bundesregierung und ist an den Verhandlungen über Yücels Schicksal beteiligt. Laschet kann als Urgestein der nordrhein-westfälischen Politik gut über die abgesagten Wahlkampfauftritte sprechen, weil gleich mehrere sein Bundesland betreffen. Und Dağdelen ist schon deswegen ein Teil der türkisch-deutschen Krise, weil die Deutschtürkin für die Armenier-Resolution des Bundestages stimmte und dafür von der Regierung in Ankara angeklagt wurde.

Günter Verheugen komplettiert das Podium mit einer europäischen Sichtweise. Als EU-Kommissar war er seinerzeit unter anderem für Beitrittsverhandlungen zuständig, also auch für die mit der Türkei.

Die Abwesenheit eines Vertreters aus dem Erdoğan-Lager

Der Konstruktionsfehler der Sendung aber ist, dass kein Vertreter derjenigen sprechen darf, mit denen ja laut ihrem Titel irgendwie umgegangen werden soll. Es ist niemand da, der die Perspektive von "Erdoğans Türkei" auch nur annähernd einnehmen oder erklären könnte. Kein Minister aus Erdoğans Regierung, kein Botschafter und auch kein Vertreter seiner Partei AKP. Zumindest einen solchen hätte die Redaktion sicherlich für die Diskussion gewinnen können: Mitglieder der AKP-nahen "Union Europäisch-Türkischer Demokraten" treten gern bei Anne Will auf, wie man aus früheren Sendungen weiß.

Die fehlende Perspektive des Erdoğan-Lagers wirkt an diesem Abend umso absurder, da sich die Anwesenden über alle politischen Lager hinweg in einem Punkt einig sind: Es wäre falsch, wenn die Regierung den Gesprächsfaden mit Ankara abreißen ließe. Die Anne-Will-Redaktion hat durch ihre Teilnehmerauswahl in ihrer Sendung aber genau das getan.

Eine Kontroverse entsteht dann immerhin um den Ton, in dem die Gespräche mit der Türkei in Zukunft geführt werden sollen. Die Linke Dağdelen und der CDU-Mann Laschet gehen in dieser Frage eine Koalition ein. Beide sprechen sich dafür aus, Auftritte türkischer Politiker, die in Deutschland für Erdoğans umstrittene Verfassungsreform werben wollen, zu untersagen. "Ich will ihn nicht hier sehen", sagt Laschet über den türkischen Präsidenten, und Dağdelen setzt nach: "Ich möchte nicht, dass Deutschland zur Wahlkampfarena für die türkische Despotie wird."

Yücels Schwester hat einen unglücklichen Auftritt - das liegt an Anne Will

Maas und Verheugen weisen das unisono zurück, da sie befürchten, damit die Beziehungen zu Ankara nur noch weiter zu verschlimmern. Zwar nennt Maas Vorwürfe Erdoğans an Deutschland, mit der Untersagung von Wahlkampfauftritten türkischer Politiker zu handeln wie in der Nazi-Zeit, "abstrus, infam und abwegig". Doch warnt er davor, sich von Erdoğan provozieren zu lassen. "Die Verhängung eines Einreiseverbots würde nichts verbessern", sagt Maas. Die Folge wäre nur eine weitere Eskalation, und daran könne keiner ein Interesse haben.

Journalist Can Dündar springt dem Justizminister bei, als er sagt, ein solcher Schritt nütze letztendlich nur Erdoğan, "weil er ein Interesse daran hegt, das Hass-Niveau zu steigern". Einerseits klingt das plausibel. Andererseits ist genau dies so ein Satz, in dem man sich die Antwort eines Repräsentanten der türkischen Regierung wünscht. Aber Erdoğan schaut eben nur finster und stumm vom Bildschirm im Studio.

Unglücklich ist auch der Auftritt İlkay Yücels, der Schwester des in der Türkei inhaftierten Welt-Korrespondenten. Das liegt nicht an ihr, sondern an der Art, wie Moderatorin Will das Interview mit ihr führt. Yücel wird aus Istanbul zugeschaltet, sie ist dort am Wochenende angekommen und will ihren Bruder im Gefängnis besuchen.

Die Frau mit den roten Haaren ist sichtlich mitgenommen, aus jedem ihrer Sätze spricht die Ungewissheit. Sie weiß nicht, ob es ihr wirklich gelingen wird, zu ihrem Bruder vorzudringen. Sie weiß nicht, wie es ihm geht. Sie weiß nicht, wie lange er noch im Gefängnis wird bleiben müssen, in der Türkei kann die Untersuchungshaft bis zu fünf Jahre dauern.

İlkay Yücels Stimme ist belegt, sie ist den Tränen nahe. Moderatorin Will aber führt das Interview mit einem breiten Lächeln und wohlwollendem Nicken, und zum Schluss sagt sie lapidar: "Frau Yücel, wir wünschen Ihnen alles Gute." Die Kamera schwenkt um, nächstes Thema.

Warum kam die Türkei vom Reformpfad ab?

Den spannendsten Gedanken der Sendung liefert der ehemalige EU-Erweiterungskommissar Verheugen. Man müsse sich fragen, sagt er, wie die Türkei seit 2002 vom "reformfreundlichsten Land Europas" zu einer Autokratie habe werden können.

Mit schuld daran seien die EU-Staaten, argumentiert er. Sie hätten trotz anderslautender Versprechen der Türkei danach keine ernst gemeinte Beitrittsperspektive gegeben. "Das hat dazu geführt, dass wir den Einfluss auf dieses Land verloren haben."

Was ein Erdoğan-Vertreter wohl dazu sagen würde? Auch das hätte man gern gehört.

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