"Anna Karenina" im Kino:Jetzt ist mehr Lametta

Anna Karenina, Keira Knightley

Keira Knightley als Anna Karenina

(Foto: AP)

Ein Naschwerk für die Augen: Joe Wrights Verfilmung von Leo Tolstois Roman "Anna Karenina" mit Keira Knightley in der Titelrolle versucht sich an einem der größten Liebesromane und verliert sich im pittoresken Bilderzauber. Trotz phantastischer Einzelszenen.

Von Christopher Schmidt

Jauchzet, frohlocket! Zum Nikolaustag steckt uns das Kino eine neue Verfilmung von Tolstois Anna Karenina in den Stiefel. Und da wollen wir erst einmal artig die gute Absicht loben, ehe wir uns über dieses opulente Naschwerk für die Augen hermachen. Schließlich dürfen es zur Weihnachtszeit ein paar Kalorien mehr sein. Und außerdem stammt diese, wenn wir richtig gezählt haben, elfte Film-Adaption von dem britischen Regisseur Joe Wright, einem ausgewiesenen Könner des Genres. Wright hat ein Händchen für historische Romanverfilmungen mit großem Melos und versteht es brillant, innere Zustände zu visualisieren.

Man denke an Szenen wie jene aus der Verfilmung von Ian McEwans Roman Abbitte (2007), in der Wright die Anomie des Krieges in einer einzigen ungeschnittenen Kamerafahrt einfängt - einer Totalen des Irrsinns. Oder an die Einstellung aus der Jane-Austen-Verfilmung Stolz und Vorurteil (2005), in der die Protagonistin sich auf einer Gartenschaukel dreht und ein ganzer Sommer vergeblichen Wartens auf die große Liebe wie im Zeitraffer vorüberzieht. Oder an das Schlussbild, in dem der Ersehnte endlich im Morgennebel übers Heidemoor gestapft kommt: Kot an den Stiefeln und Schmetterlinge im Bauch.

Dieses Prinzip der subjektiven Kamera hat Joe Wright nun auf die Spitze getrieben. Indem er die Handlung in einem alten Theater ansiedelt, stellt er die Innenwelt der Figuren in den Guckkasten. Dabei ist jedoch die Bühne keineswegs der alleinige Schauplatz des Geschehens, vielmehr bespielt der Film das ganze Theater - und die Statik der Vierten Wand wird konterkariert durch die Dynamik der Kamera. Wie ein Endoskop erkundet ihr fliegendes Auge dessen Eingeweide von der Untermaschinerie bis hinauf zum Schnürboden.

"Sie tat Schlimmeres, als das Gesetz zu brechen"

Zu seiner Theater-Metapher inspiriert wurde der Regisseur durch den Historiker Orlando Figes, der die St. Petersburger Hautevolee der 1870er-Jahre in ihrer Künstlichkeit mit Theaterfiguren verglichen hat. Bei dem Versuch, sich im zaristischen Russland die westeuropäische Lebensart anzuverwandeln, habe das gesellschaftliche Parkett als Bühne gedient, auf der man mit Rollenbildern spielte. Diese gespreizte Uneigentlichkeit wird im Film zum Katalysator der sozialen Ächtung. Ein verunsichertes Milieu muss, um sich zu stabilisieren, die Ehebrecherin Anna Karenina, die eine leidenschaftliche Affäre mit dem Offizier Wronskij beginnt, symbolisch bestrafen für ihren Verrat. Und so lautet denn der entscheidende Satz des Films: "Sie tat Schlimmeres, als das Gesetz zu brechen: Sie brach die Spielregeln."

Allerdings wird die geschlossene Ästhetik der Theaterkulisse nicht sklavisch durchgehalten. Genauso wie die Spielzeugeisenbahn von Annas kleinem Sohn sich mit einem Wimpernschlag in den schnaufenden Zug verwandelt, in dem die Liebespendlerin Anna die verschneiten russischen Weiten zwischen Moskau und St. Petersburg durcheilt, erwacht plötzlich ein gemalter Prospekt - vom Bühnenportal gerahmt wie ein Gemälde - zum Leben, öffnet sich in den dreidimensionalen Landschaftsraum: ein sommerlicher Hain, weite Kornfelder, ein zugefrorener See - einzig in der Natur dürfen sich die in den Salons unterdrückten Gefühle frei entfalten. Bewusst balanciert der Film auf dem schmalen Grat von Realistik und Stilisierung - und bleibt doch allzu artifiziell. Für die urbane Scheinwelt wählt Wright eine choreografische Bildersprache und zitiert den Zerrspiegel der Groteske herbei. So lässt er Beamte im Synchronballett Papiere abstempeln, als wären sie einer Erzählung von Gogol entsprungen. Sich gegen diese überzeichneten Szenerien und das Korsett des unbedingten Stilwillens mit feineren Strichen zu behaupten, wird für die Sprechrollen zum Problem.

Hinzu kommt noch der erdrückende, lebkuchenklebrige Ausstattungsbombast. Der kaleidoskopartige Film mit seinen Tonnen von Puderzuckerschnee und seiner überrussifizierten Birkenwäldchen- und Samowar-Bukolik hat etwas von einer mechanischen Menagerie. Wer weiß, dass der Regisseur aus einer Familie von Puppenspielern stammt, meint diese Leblosigkeit besser zu verstehen. Das Ganze erinnert an eine nostalgische Spieldose, die einmal aufgezogen munter, aber kalt abschnurrt.

Putzmunteres Wachsfigurenkabinett

Dabei ist das Drehbuch von Tom Stoppard vorzüglich, lässt auch jene Figuren zu ihrem Recht kommen, die in älteren Verfilmungen meist im Schatten standen. So sind etwa die beiden gegensätzlichen Liebesgeschichten des Romans kunstvoll ineinander verschlungen. Tolstoi stellt der romantischen Liebe von Anna und Wronskij die pragmatische zwischen Lewin und Kitty gegenüber. Sein Fazit, dass eine Beziehung, die sich nicht in der Welt objektivieren und bewähren kann, an sich selbst zuschanden geht, bringt der Film glänzend zur Geltung.

Und es gibt viele phantastische Einzelszenen: das hochsymbolische Pferderennen, das Wright auf die Bühne verlegt, so dass sich Innen und Außen so paradox wie genial miteinander verbinden. Großartig, wie das Hufgetrappel mit Annas nervös klapperndem Fächer korrespondiert, als triebe sie ihren Wronskij mit einer Reitgerte an. Oder die Idee, aus dem Schlafzimmer der Karenins ein düsteres Verlies zu machen. Das Ehebett ein Opferalter, der Gemahl ein Hohepriester, der, bevor er die Ehe vollzieht, aus einem tabernakelartigen Schrein eine Schatulle holt, in der er das (damals noch) wiederverwendbare Kondom aufbewahrt.

Von größter Delikatesse sind allein schon Annas Kostüme, die einer superben Farbdramaturgie folgen: Als schwarzer Schwan betritt Anna die Szene, als wäre sie gleichsam erotisch verwitwet an der Seite ihres Mannes, des fischigen Bürokraten Karenin. Dann aber erblüht sie zu sündigem Rot, um nach ihrem sozialen Tod zur weißen Lilie zu erbleichen. Einmal liegt ein Spitzenschleier wie ein Spinnennetz über ihrem Gesicht, und ein anderes Mal steht sie da im nackten Drahtgestell ihrer Tournüre wie ein Vogel im goldenen Käfig. Hochfeine Bilderfindungen sind das für die Isolation, zu der die gesellschaftlichen Konventionen die Heldin verdammen.

Mehr Kleider als schauspielerische Nuancen

Leider hat die so grundbezaubernde Keira Knightley in der Titelrolle mehr Kleider im Schrank als schauspielerische Nuancen. Das Hadern zwischen Pflicht und Neigung, die sexuelle Verfallenheit, dann die moralische Leidensgröße - bei ihr wirkt die Etüde in Moll immer etwas angestrengt und neurotisch. Wronskij - "Liebe kennt kein Warum" - ist bei Aaron Taylor-Johnson ein Marzipan-Prinz aus dem russischen Weihnachtsmärchen, ein gezwirbelter Epauletten-Stutzer. Mehr säuselnd als feurig überbringt dieser Operetten-Softie seine Liebesgrüße aus Moskau.

Aus Lewin, Tolstois Alter Ego, macht Domhnall Gleeson einen sympathisch vertrottelten Weltverbesserer. Er sehnt sich nach dem einfachen Leben, doch als er sich in Kitty verliebt, legt der Sinnsucher die Sense erst mal beiseite. Diese Kitty ist mit Alicia Vikander hervorragend besetzt. Zwischen Liebreiz und Überbiss spielt sie glaubhaft den Reifeprozess vom schwärmerischen Backfisch zur selbstlosen Gefährtin. Schön, wie sich beide ihre Liebe bei einem Brettspiel, einer Art Ur-Scrabble, gestehen und die erlösenden Worte mit klobigen Buchstabenwürfeln legen. Absolut bemerkenswert ist Jude Law: Hier völlig gegen den Typ besetzt, gibt er nicht die wuschelige Schmusebacke, sondern einen verhärteten Aktenhuber, die personifizierte Geheimratsecke, und lässt seinem Karenin doch Gerechtigkeit widerfahren. Auch er ist ein Liebender, aber einer, der sich selbst im Wege steht.

Annas Freitod kommt, Morphiumsucht und Entfremdung im zur blauen Eisgrotte erstarrten Liebesnest hin oder her, etwas plötzlich. Immerhin zeigt sich auch hier Wrights künstlerische Sensibilität, wenn er sie sich nicht theatralisch vor den Zug werfen lässt, sondern sehr viel prosaischer zwischen die vorbeiratternden Waggons. Bei all dem pittoresken Bilderzauber freilich gerät auch die Tragik unter die Räder. In den überästhetisierten Tableaus wirbeln die Reize bunt durcheinander wie in einer Schneekugel, die ordentlich geschüttelt wurde. Zurück bleibt am Ende ein edel geschmerzter Karenin. Trost findet der alleinerziehende Vater bei den beiden Kindern, dem eigenen und dem von Wronskij - ein Patchwork-Idyll avant la lettre.

Trotz sublimer Details ergibt alles zusammen kaum mehr als ein putzmunteres Wachsfigurenkabinett. Joe Wright tobt sich aus wie ein Kind bei der Weihnachtsbescherung. Darüber hat er den Stoff von Anna Karenina, der Mutter aller großen Liebesromane, ein wenig aus den verzückt leuchtenden Augen verloren.

Anna Karenina, Großbritannien 2012 - Regie: Joe Wright. Buch: Tom Stoppard. Kamera: Seamus McGarvey. Produktionsdesign: Sarah Greenwood. Mit Keira Knightley, Jude Law, Aaron Taylor-Johnson. Universal, 130 Minuten.

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