Angst vor Naturkatastrophen in den USA:Der Sturm

Als sich die Sturmwolken lichteten, dauerte es nicht lange, bis die New Yorker ihren berühmten Sarkasmus wiederfanden. Im Nachhinein ist ihnen die unverhältnismäßige Angst vor Hurrikan "Irene" sichtlich peinlich. Doch Naturkatastrophen werden schnell zu einem politischen Faktor - wenn sie unterschätzt werden.

Andrian Kreye

Als sich die Sturmwolken über New York am Sonntag lichteten, dauerte es nicht lange, bis die Bewohner der Stadt ihren Sarkasmus wiederfanden. Der Hausbesitzer im Brooklyner Hafenviertel Red Hook, der noch am Samstag seine Fenster mit Sperrholzplatten vernagelt hatte, betitelte einen Blogpost mit dem ironischen Pathos: "Gemeinsam werden wir Red Hook wieder aufbauen!", und zeigte dazu ein umgestürztes Fahrrad voller Laub. Und aus einer anderen Evakuierungszone kam über Facebook die Frage: "Wollt ihr wissen, wie ich mich fühle, nachdem ich wegen ein paar Windböen und Pfützen das Haus nicht verlassen habe?"

New York City Hit By Hurricane Irene

Trotz teilweiser Überflutung: Die größte Stadt der USA blieb von einer Katastrophe verschont.

(Foto: AFP)

Den New Yorkern ist es spürbar peinlich, dass die behördlich verordnete Panikstimmung ihre sonst so hartgesottene Weltsicht erschüttern konnte. Es ist vor allem der Ärger darüber, dass New York mit seiner Angst vor dem Hurrikan Irene seine Immunität gegen die Angst vor der Naturkatastrophe und somit eines jener Alleinstellungsmerkmale verloren hat, mit denen sich die Stadt so gerne vom Rest des Landes abgrenzt.

In den sogenannten Hinterländern, die für New Yorker schon am Westufer des Hudson River beginnen, spielen diese Ängste in den Mythologien des Landes eine prägende Rolle. Egal, ob in der Popkultur der Kirchen oder in der Filmgeschichte - von der Offenbarung des Johannes über das Musical "Zauberer von Oz" bis zu Roland Emmerichs Katastrophenfilmen und Bestsellern wie Sebastian Junges "Der Sturm" stehen Naturkatastrophen für die unberechenbare Macht des Schicksals.

Lehren aus einer Geschichte von Katastrophen

Es sind aber keineswegs die mythischen Katastrophen der Popkultur, die Präsident Obama und New Yorks Bürgermeister Bloomberg dazu brachten, Katastrophenalarm auszurufen. Es sind handfeste historische Ereignisse aus dem frühen 20. Jahrhundert, welche die Mythologie der amerikanischen Politik bis heute prägen. In den Geschichten der meisten amerikanischen Städte finden sich Kapitel von alttestamentlicher Wucht: Der große Hurrikan von 1900, der die texanische Hafenstadt Galveston verwüstete. Das Erdbeben und die nachfolgende Feuersbrunst, die 1906 weite Teile von San Francisco zerstörten. Die unzähligen Stürme, Feuersbrünste, Erdbeben, Erdrutsche, Hitzewellen und Fluten, die jedes Jahr wieder Hunderte und Tausende Tote fordern. Doch es ist vor allem die große Mississippi-Flut von 1927, die sich im Gedächtnis der amerikanischen Politik so fest eingeprägt hat.

Mit 246 Toten war die Flut von 1927 vielleicht nicht die schlimmste der amerikanischen Katastrophen. Doch es war die folgenreichste. Am Karfreitag, dem 15. April des Jahres 1927, gingen im amerikanischen Süden schwere Regenfälle nieder. Alleine in New Orleans fielen an diesem Tag innerhalb von 18 Stunden rund 380 Millimeter Niederschlag. Der Mississippi, der seit dem vorhergegangenen Sommer stetig angeschwollen war, erreichte unterhalb von Memphis an einigen Stellen eine Breite von fast einhundert Kilometern. In der Stadt selbst erreichte der Pegelstand in den Straßen teilweise mehr als einen Meter.

Angesichts der nahenden Katastrophe trafen sich Bankdirektoren, Geschäftsleute und Honoratioren der Stadt zu einer Krisensitzung. Sie beschlossen, Dämme zu sprengen, um die Stadt zu retten. Wenige Wochen später detonierten auf dem Damm bei Caernarvon wenige Meilen südlich von New Orleans dreißig Tonnen Dynamit. Die Wassermassen überfluteten die Landkreise von St. Bernard und Paquemines. Rund zehntausend Bürger verloren ihr Heim. Weil die Flut aber schon eineinhalb Millionen Menschen obdachlos gemacht hatte, wurden viele von ihnen in Flüchtlingslagern untergebracht, in denen finstere Zustände herrschten. Vor allem die schwarzen Heimatlosen waren dort bald schon vergessen.

Held der Stunde war Handelsminister Herbert Hoover. In einem unerhörten Kraftakt koordinierte er auf Bitten der Gouverneure der sechs betroffenen Bundesstaaten die lokalen Behörden, die Armee und das Rote Kreuz. Er mobilisierte Ärzteteams, die Malaria- und Typhus-Ausbrüche eindämmten. Und er beruhigte die Tausenden Schwarzen, die in den Flüchtlingslagern besonders elend hausen mussten. Er versprach ihnen Reformen und Rechte, sollte er Präsident werden, und brachte Hilfs- und Bürgerrechtsorganisationen dazu, ihre Berichte über die Lager zurückzuhalten.

Hoovers Kraftakt zeigte Wirkung. Als Held vom Mississippi gewann er als Kandidat der Republikaner die Präsidentschaftswahlen von 1928. Doch es waren genau jene Versprechungen, die ihn seine Wiederwahl kosten sollten. Er setzte keine der Reformen um. Im Gegenteil, um seinen Stammwählern im weißen Süden zu gefallen, blockierte er schwarze Forderungen nach mehr Rechten. Die Folgen waren gewaltig.

Im Nachgang der Flut zogen Hunderttausende Schwarze aus dem amerikanischen Süden in die Großstädte des Nordens. Die "Great Migration", die Völkerwanderung der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre, sollte die Demographie des Landes für immer verändern. Und es waren die schwarzen Wähler, die Hoovers Gegner Franklin D. Roosevelt 1932 an die Macht brachten, der die Herrschaft der Demokraten auf Jahrzehnte zementieren sollte.

Kaum ein Präsident beherrscht das Spiel mit den Bildern der Geschichte so gut wie Barack Obama. Der wusste sehr wohl, dass George W. Bush die Lektion der Flut von 1927 letztlich sein Amt gekostet hatte, als er die Flutkatastrophe von New Orleans nach dem Hurrikan Katrina 2005 unterschätzte.

Eine Flutkatastrophe in der Stadt am Hudson River wäre das sichere Ende von Obamas Laufbahn gewesen. Wer weiß, wie die Zukunft Amerikas ausgesehen hätte, wenn die nach wie vor mächtigste Stadt der Weltwirtschaft zum nächsten Kapitel in der Geschichte der Katastrophenmythen geworden wäre. Was sind da schon ein paar peinlich berührte New Yorker, denen die Vorsichtsmaßnahmen zu weit gingen?

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: