Breiviks Traktat in Weimar:Gewaltige Präsenz von Pein und Arroganz

Am Schluss gab es nur zaghaften Applaus, der belegte, dass hier etwas schiefgelaufen ist: Die Deutschtürkin Sascha Soydan verliest in Weimar das Pamphlet des Massenmörders Anders Behring Breivik. Das gelang ihr künstlerisch. Doch wie sollen Zuschauer die Schauspielerin ehren, ohne ihren Part zu billigen?

Burkhard Müller

Einen "Szenischen Kongress" hatte das Nationaltheater Weimar angekündigt. Den großen Maschinenraum des Weimarer E-Werks hatte man zu einem Gerichtssaal umgerüstet, mit Plätzen für Richter, Anwälte und Zuschauer. Das heißt, man sah im Grunde dieselbe räumlich-szenische Konstellation, wie sie auf allen Kongressen herrscht: Ein Panel referiert und diskutiert, das Publikum lauscht. Der interessanteste Platz, der des Angeklagten, dramatischerweise ein Gitterkäfig, blieb leer.

Szenische Lesung 'Breiviks Erklaerung'

Der Regisseur Milo Rau hatte "Breiviks Erklärung" von der deutschtürkischen Schauspielerin Sascha Soydan lesen lassen, der größtmöglichen Distanz wegen. Doch er machte den Fehler, sie verächtlich Kaugummi kauen zu lassen.

(Foto: dapd)

Der Kongress hieß "Power and Dissent". Trotz seines Titels verlief er auf Deutsch, ausgenommen das allererste Referat des ehemaligen CIA-Agenten Glenn L. Carle. Wer gehofft hatte, etwas über das innere Leben der Agentur zu erfahren, wurde freilich enttäuscht. Carle bot kaum mehr als die defensive Klage, wie schlimm es mit dieser Institution in den Bush-Jahren geworden war, und dass vier bis sechs Bösewichter genügt hätten, die Maßstäbe völlig zu verrücken und Folter akzeptabel zu machen, sehr gegen den Willen all seiner "honorable colleagues".

Seine Banknachbarn, die nicht moralisch, sondern systemisch dachten, der Strafrechtler Kai Ambos und der Sozialpsychologe Harald Welzer, begegneten ihm mit kühlem Hohn, nutzten aber die Gelegenheit zur szenischen Gestaltung, die sich zweifellos geboten hätte, dann lieber doch nicht.

Aber gekommen waren die meisten Leute wegen etwas ganz anderem: Es sollte das Manifest des Terroristen und 77-fachen Mörders Anders Breivik vorgetragen werden, das dieser bei seiner Verurteilung im norwegischen Gericht verlesen hatte. Das Nationaltheater hatte kurzfristig die Unterstützung für diesen Teil des Kongresses zurückgezogen, sodass der Auftritt in einem nahen Kino improvisiert werden musste.

Offenbar war bis zum letzten Augenblick ungeklärt geblieben, wie das Event im Einzelnen aussehen, welche ästhetische Form es annehmen sollte. Als die Details klar wurden, zog das Theater die Notbremse: Wenn ein Massenmörder das Wort erhalten soll, dann bitte nicht in unserem Namen. So steht hier auch das Nein als gewichtige Stimme im Raum.

Der Regisseur Milo Rau hatte im Grund nicht mehr zu tun, als den Schalter der Maschine auf "Ja" umzulegen. Sobald sie anlief, hatte er kaum mehr Einfluss auf sie, und er wusste in der anschließenden Diskussion auch wenig dazu zu sagen.

Denn die Bühne folgt ihren eigenen Gesetzen, die man klug benutzen oder dumm ignorieren kann, die sich aber in jedem Fall ihren Weg bahnen. Schon Brechts Irrtum war es gewesen, dass so etwas wie ein theatralischer Verfremdungseffekt existiert: Hinter diesem Gitter dringt das Theater plötzlich und überraschend hervor, um seinen Dompteur anzugreifen. Man hatte gedacht, es schlau zu machen, indem man den Text von einer Akteurin sprechen ließ, deren Figur so weit wie denkbar von dem norwegischen Unhold entfernt wäre: der jungen Deutschtürkin Sascha Soydan. Zu allem Überfluss hatte sie auch noch einen Kaugummi zu kauen.

In den immer gleichen Schleifen

Aber gerade im Kaugummi kippte die Situation. Er war eindeutig ein Requisit, und als solches zog er das Event von der Lesung zum Drama hinüber. Zwar war er als Zeichen der Distanzierung kaum misszuverstehen; doch damit schuf er eine Rolle und verhalf der Figur zu gewaltiger Präsenz, einer Präsenz von Pein und Arroganz. Dass das Bild der Schauspielerin zugleich auf der großen Leinwand des Kinos erschien, verstärkte den Effekt noch.

Hätte man den Text selbst als Skript gelesen, man wäre nach kurzer Zeit vor Langeweile eingeschlafen. Es kreiste in den immer gleichen Schleifen aus Fremdenfurcht, Rettung des Abendlandes und reueloser Apologie, und nicht einmal eigentlichen Hass enthielt es. Hätte man Breivik selbst in Oslo sprechen hören, wäre man über den Täter seiner Taten entsetzt oder empört gewesen.

Wenn aber Frau Soydan wiederholt vom Blatt aufblickte, auf der Stirn die Qual des Rechthabers, und ins Publikum rief "Ist das denn so schwer zu verstehen?" - dann erlebte jeder im Saal die künstlerische Leistung. Frau Soydan erledigte ihre Sache schlecht, indem sie sie so gut machte. Am Schluss erklang unschlüssiger Applaus, der die Schauspielerin ehren wollte ohne ihren Part zu billigen. Das geht nicht.

Einigkeit an einem Punkt

In Oslo hatte man die Entscheidung getroffen, Breivik in der umhegten Öffentlichkeit des Gerichtssaals reden zu lassen, ihm aber die große mediale Öffentlichkeit zu verweigern. Welche Art von Öffentlichkeit stellte der Weimarer Kinosaal mit seinen 150 Zuschauern her?

Diese Frage warf bei der anschließenden Debatte der Sozialpsychologe Welzer auf, indem er zu wissen verlangte, wem denn die vielen Kameras gehörten, die sich da aufs Podium richteten. Er sei nicht gesonnen, jedes Wort, das er hier sage, für Millionen Außenstehende zugänglich und für die Ewigkeit haltbar zu machen. Die pampige Retourkutsche ließ immerhin erkennen, dass RTL und ZDF dabei waren. Eine Kamerafrau schlug vor, man könne ja die Gesprächsbeiträge von Herrn Welzer weglassen.

Man bekam zu spüren, wie sehr der Begriff der Öffentlichkeit heute schillert und wie schwer es unter diesen Bedingungen sein muss, zu entscheiden, ob Breivik sie genießen soll. Dinge, wie Breivik sie vorgetragen hat, geistern allenthalben durchs Internet. Ist das Internet Öffentlichkeit? Ist Öffentlichkeit noch eine Kategorie oder bloß ein Fokus? Und wenn sie ein Fokus ist, wäre nicht das beste Mittel zur Ablenkung, dass man die kategorische Frage gar nicht erst berührt?

Im Jahr 356 v. Chr. steckte ein Mann den Tempel der Artemis in Ephesos in Brand, um berühmt zu werden. Der Stadtrat von Ephesos beschloss daraufhin, dass der Name dieses Mannes bei Strafe nicht mehr erwähnt werden dürfe. Der Mann hieß Herostratos, er hat den Sprachen der Welt den Begriff der herostratischen Tat beschert. Sagt das nicht alles über die Aussicht von Verbreitungsverboten? Wem es verboten wird, sich zu erinnern, der denkt erst recht daran, er kann gar nicht anders.

Während der Debatte stand ein Zuhörer auf und gab zu bedenken, dass Breivik sein Massaker nur begangen habe, um diese Rede halten zu können. Habe er nicht sein Ziel erreicht? Und was sollten wir daraus folgern? Er musste nicht einmal mit seinem Leben dafür büßen, wie es früher der Fall gewesen wäre, sondern er verschwindet bloß im humanen skandinavischen Knast.

Vielleicht ist das ja das Beste, was passieren kann: Denn man stelle sich vor, wie fokussierend es wirken müsste, wenn dieses Pamphlet auch noch die Adelung zu den letzten Worten eines Todgeweihten erführe! So aber taucht es zurück ins Nebelmeer der Internet-Foren. Da beginnt man die tiefe Weisheit zu würdigen, die der lebenslangen Freiheitsstrafe innewohnt: Mit ihr haben die zivilisierten Gesellschaften einen Weg gefunden, jemandem das Leben zu nehmen und doch zugleich das Pathos des Todes vorzuenthalten.

Ein weiterer Aspekt wurde leider nur angerissen: In welchem Grad stand der Einzeltäter Breivik im Einklang mit einer Haltung, die in der Gesellschaft sehr viel weiter verbreitet ist? Es wäre unverantwortlich gewesen, seinen Wahn für eine Verrücktheit zu erklären, als beträfe das bloß ihn selbst. In diesem Punkt waren sich Breivik und seine Richter einig. Jeder weiß: Solange sich Europa und die Welt als Nationen konstituieren, müssen sie als solche konkurrieren, und solange wird und muss es Nationalismus geben, dessen Gehalt immer darin besteht, die anderen auszuschließen. Nur wie das geschehen und wie weit es gehen soll, darin unterscheiden sich die Meinungen. Breivik, und das ist das Verstörende am ihm, fühlt sich darum im Recht und als Speerspitze der kommenden Mehrheit, weil er Nationalist ist.

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