Amoklauf: Motive des Täters:Verletzte Ehre

Wer angesichts des Amoklaufs von "sinnloser Gewalt" spricht, ignoriert die Gründe: Über die Versuche, Amokläufer nicht zu verstehen.

Thomas Steinfeld

Man muss über Gewalt reden. Darüber, was sie ist, warum es sie gibt, und darüber, wer sie zu welchen Zwecken benutzt. "Unfassbar", sagte Angela Merkel, als sie vom Amoklauf in Winnenden erfuhr, und von einer "in keiner Form erklärbaren Tat" sprach der baden-württembergische Ministerpräsident am Mittwochnachmittag. Man wird das Entsetzen auch der Politiker verstehen und ihre Sprachlosigkeit hinnehmen als Ausdruck ersten Erschreckens.

Amoklauf: Motive des Täters: Ein Blatt mit der Aufschrift "Warum?? Wieso??? Weshalb????" liegt am Donnerstag neben Kerzen vor der Albertville-Realschule in Winnenden.

Ein Blatt mit der Aufschrift "Warum?? Wieso??? Weshalb????" liegt am Donnerstag neben Kerzen vor der Albertville-Realschule in Winnenden.

(Foto: Foto: dpa)

Wenn aber nun tatsächlich versucht werden soll, "präventiv tätig zu werden", wie Ursula von der Leyen vorschlug, wird man mit Beschwörungen von Unverständlichkeit nicht weit kommen. Wer angesichts solcher Taten von "sinnloser Gewalt" spricht, erklärt schon von vornherein, dass er sich mit ihren Gründen nicht befassen will. Im Gegenteil: Erst wenn verständlich wird, welchen "Sinn" ein Amoklauf für den Täter ergeben soll, kann überhaupt eine Vorstellung davon entstehen, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, in der so etwas nicht mehr geschieht.

Gewalt ist, das mag uns passen oder nicht, etwas stets Naheliegendes, Allgegenwärtiges und, leider, in dieser Welt bislang Unausweichliches. Die Waffe am Gürtel eines Polizisten ist nicht nur eine Erinnerung daran, wie mühsam der innere Frieden dieser Gesellschaft errungen wurde, sondern demonstriert zugleich die Bereitschaft, ihn auf dieselbe Weise wiederherzustellen, in der er entstanden ist - durch Gewalt.

Und wenn Günther Oettinger, der Ministerpräsident, nach dem Amoklauf erklärt, es sei "besonders gemein", die "Schule, einen Ort der Zukunft, der Bildung und Erziehung, so zu stören und zu zerstören", dann macht er sich Illusionen über das moderne Schulwesen, die der Amokläufer nicht teilt. "Alle lachen mich aus, niemand erkennt mein Potential", schrieb er, als er seine Tat ankündigte, und drohte dann: "Ihr werdet morgen von mir hören." Das klingt nicht nur wie die Drohung des Amokläufers von Emsdetten: "Ich will meinen Teil zur Revolution der Ausgestoßenen beitragen." Sondern es ist auch ein Ausdruck dafür, wie diese jungen Männer ihre Schulen wahrnahmen: als Orte gewaltsamer Niederlagen.

Solche Niederlagen gibt es. Fast jeder kennt sie. Die allermeisten Menschen werden trotzdem nicht zu Gewalttätern. Und doch: Wenn dann einer an seine Schule zurückkehrt, um "Rache" für die erlittene Schmach zu nehmen, dann muss das etwas miteinander zu tun haben. Ein großer Teil der Deutungen, die jetzt in die Welt gesetzt werden, ist jedoch nicht dazu angetan, ein wenig Licht in diese Verhältnisse zu tragen: Von einer "doppelten Identität" des Amokläufers war schon am Tag der Tat die Rede.

Die Diagnose wird seitdem ergänzt durch "Narzissmus", "Störungen der Kommunikation", "Depressionen" in klinischem Ausmaß und, nicht zuletzt, "Waffenwahn". Besonders forsch, aber ganz auf derselben Linie, war der Sprecher des "Bundes deutscher Sportschützen": Beim jungen Mann aus Winnenden habe es sich um einen "Zombie" gehandelt, behauptete er, er sei "kein Mensch mehr" gewesen. Wer ein Interesse daran hat, Amokläufe von Schülern zu verstehen, wird sich solchen Argumenten verweigern: Denn sie erklären den Täter zum Getriebenen, sie nehmen ihm den Willen, das Bewusstsein und die Schuld - aber nicht, um ihn freizusprechen, sondern um seine Tat in etwas Sinn- und Zweckloses zu verwandeln, in etwas, das ganz und gar außerhalb dieser Gesellschaft liegt. So, als habe sich etwas gänzlich Irrationales, Dämonisches in ihm Bahn gebrochen.

Es ist, als solle über Gewalt nicht geredet werden, nicht darüber, wie sie tatsächlich und überall existiert, vom alltäglichen Mobbing bis hin zum Kriegseinsatz. Auch die nach jeder spektakulären Gewalttat eines Jugendlichen wiederkehrende Forderung nach einem Verbot von besonders gewalttätigen Computerspielen dient diesem Zweck. Kein Wort fällt darüber, in welchem Maße die Gewalt in das Nachmittagsprogramm selbst der öffentlich-rechtlichen Sender eingezogen ist, kein Gedanke daran, wie oft an einem gewöhnlichen Fernsehabend gequält und verletzt, geblutet und getötet wird, keine Vorstellung davon, dass der Kriminalroman und der Kriminalfilm - also Geschichten vom Morden - den beliebtesten Stoff zur Unterhaltung der Deutschen bilden.

Zufällig im Schussfeld

Es gibt aber keinen fundamentalen Unterschied zwischen dem vermeintlich nur betrachtenden (tatsächlich fiebert der Zuschauer beim Fernsehen ja auch mit) Umgang mit der Gewalt beim Fernsehen und dem angeblich mit mörderischem Willen und Bewusstsein betriebenen Umgang mit der Gewalt im Computerspiel. An den zappelnden, immer noch künstlich wirkenden Comicstrip-Figuren, die man in einem Programm wie "Counter-Strike" niederballern muss, um selber noch eine Weile im Spiel bleiben zu dürfen, kann es jedenfalls kaum liegen, wenn der Spieler zum Gewalttäter wird - da sind die Fernsehbilder schon weitaus eindrucksvoller und vor allem: der Wirklichkeit sehr viel näher. Falls sie nicht gar gleich der Wirklichkeit entnommen sind.

Die Welt wird, da kann man sicher sein, nicht um einen Grad behaglicher werden, wenn sich der "Tatort" künftig mit Taschendieben und Heiratsschwindlern beschäftigte und Henning Mankells Romane unter dem Ladentisch verkauft werden müssten. Aber es spricht einiges dafür, dass Verrohung durch Übung befördert wird - dass also der tägliche, und sei es: imaginäre Umgang mit dem Töten in allen Varianten zumindest dazu beiträgt, dass einem Gewalt als etwas sehr Gewöhnliches erscheint.

Und es ist auch wahrscheinlich, dass es das Vergnügen an der Darstellung von Gewalttaten nicht gäbe, kennte man nicht selbst die Verlockung der Gewalt zur Durchsetzung eigener Zwecke. Und doch ist es vom imaginären Umgang mit Gewalt zu deren praktischer Ausübung ein gewaltiger Schritt: Denn jener trifft ein stark stilisiertes Pixelmännchen, diese aber trifft einen Menschen, und jenen ballert man nieder, um zu gewinnen, diesem aber, diesem einen, tut man aus Gründen etwas an. Der Amokläufer von Winnenden tötete Passanten, Menschen, die ihm zufällig ins Schussfeld gerieten. Aber zuerst war er in derselben Klasse, die er im vergangenen Sommer verlassen hatte.

Was ist Gewalt?

Gewiss, es gibt, äußerlich betrachtet, einen Zusammenhang zwischen Horrorfilmen, brutalen Computerspielen und Gewalttätern. Wie aber, wenn nicht erst die Spiele den Gewalttäter hervorbrächten? Wenn er es wäre, der sie sich sucht, der an ihnen Gefallen und Anregung findet, weil er ohnehin schon meint, dass Gewalt sein Mittel sein könne? Die Forderung nach dem Verbot von Computerspielen wiederholt den Gedanken, der Täter sei aus mehr oder weniger unerfindlichen Gründen zur Tat getrieben, unter anderen, technischen Voraussetzungen. Auch er ist eine Determinationslehre, strengster Behaviorismus. Und er ist, genau wie die psychologischen Deutungen, dazu angetan, weder die Fragen nach den Gründen der Tat aufkommen zu lassen noch die nach der Rolle, die Gewalt in unserer Gesellschaft spielt.

In der Nacht vor der Tat schrieb der Amokläufer von Winnenden: "Alle lachen mich aus, niemand erkennt mein Potential. Ich meine es ernst." Drei Motive stecken in diesem Gedanken: ein hoher Begriff von der eigenen Ehre, eine überscharfe Vorstellung von der eigenen Niederlage, ein unbedingter Wille zur Genugtuung. Hier hat sich jemand das Urteil, das seine Umwelt über ihn gesprochen hatte, so sehr zu eigen gemacht, dass er es nicht mehr ertragen will, als Versager zu gelten.

Und dann zieht er aus, um die Anerkennung mit Gewalt zu erzwingen. "This is the day of the expanding man", sang die Popgruppe Steely Dan vor dreißig Jahren, in einem Lied, das aus einem inneren Monolog besteht, den ein Amokläufer vor der finalen Begegnung mit der Polizei singt: "They got a name for the winners in the world / I, I want a name when I lose." Was ist Gewalt? Den Willen eines anderen zu brechen. Und in diesem Willen verhält sich auch ein Amokläufer rational, furchtbar rational.

(Nachtrag und Korrektur durch suedeutsche.de für die Online-Ausgabe: Die von Thomas Steinfeld zitierten Passagen zu den Internet-Bekenntnissen des Amoktäters von Winnenden entsprechenden dem Kenntnis-Stand und entsprechenden Verlautbarungen des baden-württembergischen Innenministeriums, das bis zum Abend des 12.03.2009 nachdrücklich berichtete, dass die Ermittlungen der Behörden ergeben hätten, der Täter habe sein Vorhaben im Internet publik gemacht. Inzwischen ist diese Verlautbarung offiziell revidiert. - bgr)

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