Amoklauf in München:"Mörder hat möglicherweise in den Schulattentätern Leidensgenossen gesehen"

Nach Schießerei in München

Die Trauer und Betroffenheit ist groß: Menschen legen an dem Ort Blumen und Rosenkränze nieder, an denen am Freitag ein 18-Jähriger neun Menschen erschossen hat.

(Foto: dpa)

Bei David S. wurde ein Sachbuch über Amokläufe gefunden. Das Vorwort dazu hat der Jugendforscher Klaus Hurrelmann geschrieben. Ein Gespräch über Wahnvorstellungen und die Verantwortung der Wissenschaft.

Interview von Alex Rühle

Der Soziologe Klaus Hurrelmann lehrt in Berlin an der Hertie School of Governance in den Bereichen Gesundheits- und Bildungspolitik. Zuvor war der 72-Jährige Professor an den Universitäten Essen und Bielefeld.

SZ: Herr Hurrelmann, der Münchner Amokläufer hat in der Vorbereitungszeit seiner Tat anscheinend ein Buch gelesen, für das Sie das Vorwort geschrieben haben: "Amok im Kopf" von Peter Langman. Um was geht es darin?

Klaus Hurrelmann: Langman hat sich über fünf Jahre lang die Krankenakten, psychotherapeutischen Berichte und Verhörprotokolle zu über hundert Schoolshootings, also Amokläufen an Schulen angesehen. Die zehn Fälle, zu denen er das meiste Material gefunden hat, hat er dann genau analysiert. Sein Ergebnis: Bei allen zehn Tätern - und das kann man darüber hinaus erweitern - wurde eine schwere Persönlichkeitsstörung festgestellt. Alle waren in Behandlung oder hatten vor ihren Attentaten mal therapeutische oder psychiatrische Hilfe in Anspruch genommen. Sie waren psychisch krank. Das war der eine gemeinsame Nenner für die ansonsten oftmals ganz unterschiedlich gelagerten Fälle.

Langman unterscheidet drei Täter-Gruppen: die Psychopathen, die Psychotiker und die Traumatisierten. Können Sie diese drei Gruppen etwas genauer charakterisieren?

Traumatisierung bedeutet, dass der Täter ein schweres Schockerlebnis hatte, etwa indem er Opfer von Gewalt wurde oder massive Eingriffe in seine Autonomie erlebt hat, existenziellen Ängsten ausgesetzt war... Die Schizovariante, das ist die gespaltene Persönlichkeit. Und die psychopathologische, die Langman in den Vordergrund stellt, weil er sie für die häufigste hält, bedeutet, dass ein Mensch den Kontakt zu sich selbst, zu seinem Körper, seiner Psyche und auch zu seiner Umwelt völlig verliert, in einem Wahnraum lebt und sich für jemanden ganz Anderen hält als er ist.

Sie bezeichnen Langmans Buch als bahnbrechend. Warum?

Es war uns vorher einfach nicht klar, dass eine solch starke Persönlichkeitsstörung - Langman spricht sogar von Persönlichkeitszerstörung - allen solchen Tätern gemein ist und eine derart gravierende Rolle spielt. Ich als Soziologe hatte bis dahin geglaubt, dass Umweltbelastungen - gestörte Familienverhältnisse, schulische Belastungen, Konflikte mit Freunden etc. - das Entscheidende sind. Langman zeigt: Das sind schon wichtige Faktoren, sie führen aber nur bei einer gestörten Persönlichkeit dazu, dass diese jungen Männer in eine andere Welt abdriften. Eine gesunde Person kann oft die schwersten Konflikte irgendwie abfedern. Und dann muss jeweils noch der dritte Faktor gegeben sein: Der Täter muss Zugang zu einer Waffe haben.

Das passt zu dem Amokforscher Christoph Paulus von der Uni Saarbrücken, der vier typische Faktoren für jeden Amoklauf benennt: Die Amokläufer sind von Waffen sehr fasziniert, haben Zugang zu Waffen, neigen stark zu aggressivem Verhalten und zeigen deutliche Anzeichen einer psychischen Störung.

Ja. Langmans Buch fasste damals die gesamte Forschung zusammen. 150 Fälle oder noch mehr. Diese Kategorien treffen auf alle zu.

Noch geben Tatort und Lektüre Rätsel auf

Nun ist es ja verstörend, dass solch ein Buch, das eindeutig als Präventionsbuch geschrieben wurde, im Zimmer des Täters gefunden wird. Was meinen Sie, warum hat er es gelesen?

Ja, darüber bin ich selbst sehr erschrocken. In dem Buch werden die zehn Fälle - aus aufklärerischer Hinsicht ist das ja auch sinnvoll - sehr detailliert beschrieben. Der Münchner Mörder hat möglicherweise in den Schulattentätern Leidensgenossen gesehen. Oder er hat sich angeschaut, wie man es am besten macht. Was wiederum eine These von Langman selbst bestätigen würde: Alle Attentäter haben sehr genaue Analysen bisheriger Übergriffe gemacht und alles ganz genau rekonstruiert um zu sehen, was sie davon als Modell für ihr eigenes Handeln herausgreifen können. Aber es bleibt sehr unheimlich und schockierend, dass ein informatives Sachbuch, das zur Aufklärung von Lehrern, Therapeuten, Pädagogen, Eltern gedacht war, um zu vermeiden, dass solche Amokläufe geschehen, auf dem Tisch eines solchen Täters gefunden wird.

Besonders perfide an den Münchner Morden war ja anscheinend, dass der Täter über einen gehackten Facebook-Account Jugendliche an den Tatort gelockt hat mit dem Versprechen, sie zum Essen einzuladen.

Das gab es noch nie und man sieht daran, dass solche Taten immer auf der aktuellen Schwelle von Technologie und Kommunikation laufen. Aber weil Sie den Tatort gerade erwähnen: Im Unterschied zu allen Schoolshootings hat dieser junge Mann ja nicht an seiner Schule zugeschlagen.

Das stimmt. Aber er hat gezielt Jugendliche durch die Facebookfalle an den Tatort gelockt. Und er scheint auch gezielt auf Gleichaltrige geschossen zu haben: Acht der neun Ermordeten waren zwischen 14 und 20 Jahre alt.

Trotzdem ist noch erklärungsbedürftig, warum das nicht an der Schule stattfand. Vielleicht weist es darauf hin, dass er nicht an seiner Schule gekränkt wurde.

Weil Sie das Thema der Kränkungen gerade ansprechen: Inwieweit ist das Opfergefühl zentral bei Amokläufern?

Solch ein Amoklauf macht vorne und hinten nach unseren normalen Kategorien keinen Sinn. Der Täter ist natürlich daran interessiert, der Tat eine Sinnkomponente zu geben. Ich bin ein Opfer der Gesellschaft. Oder ich muss für Gerechtigkeit sorgen. Deshalb ist es ja auch für viele Gewaltattentäter so attraktiv, ihre Tat religiös oder politisch zu verbrämen. Obwohl das gar nicht der eigentliche Antrieb ist. Insofern bin ich auch erleichtert, dass diese Tat eindeutig keinen Hintergrund im religiösen oder politischen Kulturspannungsverhältnis hat. Es liegt uns nahe, solche Taten mit unseren Kategorien zu verstehen oder einzuhegen, aber Langman zeigt ja gerade, dass das nicht geht. Er schreibt, es bleibe bei jeder der noch so detailliert rekonstruierbaren Taten ein großes schwarzes Loch: Die psychische Störung, der Wahn.

Trotzdem nochmal zu der Frage nach dem Opfergefühl: Der Täter sagte in dem Video, das ein Augenzeuge drehte, er sei gemobbt worden und habe sich deshalb eine Waffe besorgen müssen. So als sei das eine ganz logische Reaktion. Ich armer Hanswurst bin zu kurz gekommen, jetzt muss ich eben morden. Findet sich solches Opfergerede in vielen Bekennerschreiben?

Es gibt Täter, die gemobbt und erniedrigt wurden und dann racheartige Handlungen vollzogen haben. Aber Langman zeigt, dass es eben nicht so einfach ist: Es gibt Täter, die waren erfolgreich und beliebt in der Schule. Da hängt die Persönlichkeitsstörung an irgendeinem anderen Faktor. Was sie eint, ich wiederhole mich: Alle Täter waren oder sind zum Tatzeitpunkt in psychologischer oder psychiatrischer Behandlung.

Warum Amokläufer meist junge Männer sind

Und alle sind sie junge Männer oder männliche Jugendliche. Warum?

Von allen Amokläufen an Schulen sind deutlich über 90 Prozent der Täter männlichen Geschlechts. Das hat mit typisch männlichen Bearbeitungsstrategien von Störungen und Belastungen zu tun. Sie tragen das nicht nach innen, sondern explosiv nach außen. Die Gewalt wird dann als Befreiungsschlag gegen die Umwelt erlebt - und gegen sich selbst. Denn meist töten die Täter sich selbst.

Der Soziologe David Altheide zeigt in seinem Buch "Creating Fear", dass die Medien seit den neunziger Jahren das Bild einer Welt außer Kontrolle zeichnen. Dass ihre einzige Botschaft die Angst sei. Altheide sagt, dass man in einer säkularisierten Gesellschaft keine Angst mehr vor Gott, sondern nur noch vor dem Verbrechen habe. Inwieweit entspringen solche extremen Gewaltverbrechen Selbstermächtigungs- und Größenwahnfantasien? Im Sinne von: Ich tue das schlimmst denkbare Verbrechen und bin damit dann der Allergrößte?

Voll und ganz. Der Täter steigert sich in seiner dekonstruierten Persönlichkeit in Wahnvorstellungen hinein, fühlt sich als allmächtiger Handelnder und erlangt durch seine Taten etwas, das er nie zuvor in seinem Leben so richtig erreicht hat: Die totale Herrschaft über seine Umwelt. Er katapultiert sich aus der Ohnmacht heraus in die brutale Machtausübung.

Warum bringt sich so jemand, nachdem er das, worauf er so lange hingefiebert hat, durchgeführt hat, selbst um?

Alle diese Taten haben systematisch die Selbsttötung eingeplant. Die allermeisten bringen sich auch tatsächlich um.

Wobei es mehrere der von Langman beschriebenen Täter nicht selbst schaffen. Sie betteln dann aber geradezu darum, dass die Polizei sie erschießen möge.

Genau. Die Selbsttötung gehört zur Tat dazu. Daher kommt der Name Amok auch: Es handelt sich um einen Menschen, der nicht nur seine Umwelt hasst, sondern auch sich selbst. Das fällt zusammen. Das macht sie ja auch so unverständlich.

Wie wichtig ist für solch einen Täter die maximale Opferzahl? Der Münchner Mörder hatte ja noch 300 Kugeln im Rucksack, als er sich umgebracht hat.

Was vor allem zählt, ist, diesen Schlag gemacht zu haben. Das Ganze in einem Szenario zu Ende zu bringen.

Noch eine Frage an Sie als Soziologen. Es war diesmal kein Terrorattentat, reiht sich aber ja in die Gewalttaten ein, die seit eineinhalb Jahren die europäische Gesellschaft so erschüttern - die Attentate in Frankreich, Brüssel, Orlando, Nizza, zuletzt der Axtangriff in einem Regionalzug. Wie sollten wir als Gesellschaft selbst darauf reagieren? Herfried Münkler spricht sich lange schon für "heroische Gelassenheit" oder zuletzt für "mürrische Indifferenz" aus.

Das ist der richtige Weg. Wenn es uns nicht gelingt, auf solche vereinzelte Amokläufe oder Attentate anders zu reagieren als auf eine die ganze Gesellschaft gefährdende Situation, müssen wir nochmal in uns gehen. Da kommen wir auch sehr schnell zu den Medien. Es ist beunruhigend, dass solch eine Tat sofort weltweit eine derart riesige Aufmerksamkeit erfährt, weil sie im Kontext einer Kette von Attentaten und damit existierender Verunsicherung stattfindet.

Was sollten wir als Medien denn anders machen Ihrer Meinung nach?

So sachlich wie möglich berichten, aber was soll ich schon groß sagen, Sie können die Parallele zur Wissenschaft ziehen: Zum ersten Mal wurde eine wissenschaftliche Analyse bei einem Täter gefunden. Der hat das wahrscheinlich als Anleitung gelesen. Was heißt das für uns? Dürfen wir unsere Analysen zukünftig nur noch in geschlossenen wissenschaftliche Zirkeln kreisen lassen, weil sie eventuell als Vorbild dienen könnten? Da bin auch ich ratlos und denke, dass Münkler Recht hat. Wir müssen ab jetzt darauf gefasst sein, dass so etwas passieren kann und müssen einfach weiterleben.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: