Amerikanische Philosophie:Er aß kein Fleisch, heiratete nie

Er wollte das Leben auf die einfachste Formel bringen und schrieb mit "Civil Disobedience" eine Fibel der Aussteiger. Nun erzählt Frank Schäfer das Leben des Waldgängers und Rebellen Henry David Thoreau.

Von Willy Hochkeppel

"Unser Zeitalter ist retrospektiv", räsonierte der amerikanische Dichter und Philosoph Ralph Waldo Emerson: "Es schreibt Biographien, Geschichtsbücher. Frühere Generationen schauten Gott und Natur von Angesicht zu Angesicht; wir durch ihre Augen." Wie Husserl in Europa, wollte man gewissermaßen "zu den Sachen selbst", doch ohne das europäisch "Erhabene", man wollte, so Emerson, eine Lehre vom "Gewöhnlichen und Geringen", eine "Philosophie der Straße".

Ein kleiner Kreis meist liberaler unitarischer Geister in New England wollte der Vergangenheit nicht länger anhängen. Sie nannten sich vage genug "Transzendentalisten", suchten idealistisch das Neue. 1836 erschien der Band "Nature" von Emerson, einige Jahre darauf Henry David Thoreaus Bericht "Walden". Die knappste Biografie Thoreaus stammt vom schon berühmten älteren Freund und Mentor Ralph Waldo Emerson: "Er aß kein Fleisch, trank keinen Wein, wußte nichts über Tabak, er hatte keinen Beruf, er heiratete nie, ging nie in die Kirche und nie zur Wahl, lehnte es ab, Steuern zu zahlen."

Er wollte "das Leben in die Enge treiben und es auf die einfachste Formel bringen"

1845 zog sich Henry David Thoreau, dessen zweihundertster Geburtstag am 12. Juli zu feiern ist und zu dessen Jubiläum Frank Schäfer eine neue Biografie beigesteuert hat, an einen seinem Geburtsort Concord in Massachusetts nahegelegenen Teich namens Walden zurück und baute sich dort in der Wildnis auf dem Grundstück seines Freundes und Gönners Emerson eine Hütte. Er hauste darin zwei Jahre und zwei Monate, pflanzte Bohnen und anderes an, fühlte sich autonom und keineswegs als Eremit. Er habe in seiner Hütte mehr Besucher empfangen "als zu irgendeiner anderen Zeit meines Lebens".

Thoreau betrachtete diesen Aufenthalt als ein Experiment in Naturbeobachtung, worüber er in einer Mischung aus handfester und glänzend poetischer Prosa schrieb. Ein Hauch von Ironie, die gelegentlich sogar einem Zynismus nachgibt, fehlt nie. Thoreau ist alles andere als der Naivling, als den man ihn einst in Europa sehen wollte und glaubte vernachlässigen zu können. Sein Name fehlt nach wie vor selbst in renommierten philosophischen Nachschlagewerken. Zweifellos hatte er auch etwas von einem Waldschrat, einem Kauz und maverick, was seinem entschiedenen Individualismus zuzuschreiben ist. Wie man einige Jahre später sehen würde, war er auch ein Rebell, vielleicht ein Anarchist, jedenfalls ein Opponent jeglichen staatlichen Reglements. Dass Unbekannte für ihn seine seit vier Jahren fälligen Steuern zahlen mussten, ist indes kein schöner Zug.

Amerikanische Philosophie: Frank Schäfer: Henry David Thoreau. Waldgänger und Rebell. Eine Biographie. Mit Abbildungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 253 Seiten, 16, 95 Euro. E-Book 14,99 Euro.

Frank Schäfer: Henry David Thoreau. Waldgänger und Rebell. Eine Biographie. Mit Abbildungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 253 Seiten, 16, 95 Euro. E-Book 14,99 Euro.

Das karge Leben am Waldensee, über das Thoreau präzise Buch führte, empfand er ganz und gar nicht als karg. Wie einst Sokrates auf der Agora hätte er ausrufen können: Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf. Das erste Kapitel im Buch "Walden. Or Life in the Woods" heißt "Economy", was vielfach mit "Sparsamkeit" oder "Hauswirtschaft" verdeutscht wird; aber, wie Dieter Schulz in seinem Buch "Amerikanischer Transzendentalismus" vermerkte, ist der Begriff Ökonomie bereits "im modernen Sinn von Kosten-Nutzen-Analyse" zu verstehen. Thoreau wollte "das Leben in die Enge treiben und es auf die einfachste Formel bringen". Ansonsten bekennt er: "Ich wollte immer Schriftsteller werden."

In all seinen Natur und Wildnis verherrlichenden, schwärmerischen Schriften steckt indes, wie Frank Schäfer noch einmal deutlich macht, gleichsam als negative Dialektik Zivilisationskritik. Wie weit die ging, belegt dies schneidende Zitat aus "Walden": "Was die Pyramiden anbelangt, so erregt an ihnen nichts so sehr das Erstaunen als die Tatsache, daß sich so viele Menschen fanden, die verkommen genug waren, ihr Leben zur Erbauung eines Grabes für irgendeinen ehrgeizigen Hansnarren herzugeben." Seinen unerbittlichen Affront gegen eine Regierung, die den Sklavenhandel deckte, bekundete er offen in dem Pamphlet "Resistance to Government", das unter dem späteren Titel "Civil Disobedience" zu einer Fibel für Aussteiger und Anarchisten wurde.

1862 erschien in der Bostoner Zeitschrift Atlantic Monthly ein schöner Aufsatz mit dem Titel "Walking", der deutsch mit "Wandern" oder "Spazieren" wiedergegeben wurde. "Spazieren" kennen wir vom Spaziergänger Rousseau, der jedoch von Thoreau nirgends erwähnt wird. Beide deutsche Worte passen nicht, denn in der Wildnis geht man nicht spazieren. "Wandern" ist in der Regel ein längerer Gang mit einem Ziel, während "Gehen" oder "walking" eher zielloses Umherschweifen meint. Dieser Text ist wie viele Texte Thoreaus aus Vorträgen entstanden. Sie machten ihn zusammen mit seinen Büchern sowie Artikeln in der Hauszeitschrift Dial, die er in Vertretung der frühen Feministin Margret Fuller kurze Zeit herausgab, allmählich bekannter und wohlhabender. Zwischendurch arbeitete er auch wieder in der väterlichen Bleistiftfabrik, die er sogar zu einem profitablen Unternehmen machte. Haushalten hatte er in Walden geübt und zugleich als Selfmademan Arbeitsteilung verachten gelernt.

Leseprobe

Die Philosophie oder Weltanschauung, die Emerson begründete und die Thoreau, sein Freund, der Prediger William Channing, und einige andere, namentlich Margaret Fuller, eine namhafte Übersetzerin deutscher Dichter, unter der kruden Bezeichnung "Transzendentalismus" betrieben, könnte man als Hausmacherphilosophie oder mit Ludwig Marcuse als Freiluftphilosophie bezeichnen, oder wohlwollender mit Nietzsche, einem frühen Bewunderer Emersons, als gaia scientia. Thoreaus Dichterfreund Nathaniel Hawthorne verspottete das transzendentale Philosophiegebräu, und Thoreau selbst hat es vergnügt-ironisch einmal so verballhornt: "Ja, ich bin ein Mystiker, ein Transzendentalist und ein Naturwissenschaftler. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, sollte ich Ihnen gleich gesagt haben, ich sei ein Transzendentalist. Das wäre der kürzere Weg gewesen Ihnen zu sagen, daß sie meine Erklärungen nicht verstehen würden."

Frank Schäfer lässt sich auf Definitionsübungen am amorphen, wild eklektizistischen Objekt Transzendentalismus gottlob erst gar nicht ein. Seine Biografie ist ein gut lesbarer Text, der viele, bisher kaum bekannte Details über das Leben und die intellektuelle Umwelt Thoreaus enthält. Schäfer gelingen treffende Charakterisierungen - unter anderem der bei aller gegenseitigen Bewunderung antagonistischen Naturen von Thoreau und Walt Whitman. Er durchschaut seinen Helden als einen "souveränen Synkretisten" und ertappt den überzeugten Demokraten dabei, immer noch sehr aristokratisch zu denken. Doch warum nennt er ihn des Öfteren einen Stoiker? Und welche Scheu hält ihn davon ab, die Naturvergöttlichung der Transzendentalisten mit dem Etikett Pantheismus zu belegen? Zu hinterfragen wäre wohl auch Thoreaus forsches Diktum gewesen, die Alten vermöchten der Jugend keinen wertvollen Rat zu geben, ihre eigenen Erfahrungen seien "Stückwerk".

Vieles ist bloß Predigt oder Spruchweisheit ohne Begründung

Andererseits bemüht Schäfer weitaus sparsamer als frühere deutsche Biographen zeitübergreifende Bezüge mit entsprechendem Namedropping, vielmehr lässt er in zahlreichen längeren Zitaten Thoreau selbst zu Wort kommen. (Hier allerdings ist kein Übersetzer namhaft gemacht noch gibt es eine Ortsangabe der Zitate. Ein empfindliches Manko.)

Obwohl das Leben Thoreaus exzentrisch und bewegt genug war, um ein spannendes Buch daraus zu machen, entwickelt diese Biografie keinen Sog. Sie ist nur ordentlich erzählt, fällt in die üblichen Hymnen ein, stellt keine unangenehmen Fragen an den einstigen Harvard-Absolventen Thoreau und seine Freunde: etwa ob ihnen bewusst war, dass die Entzauberung der Welt durch Wissen kaum weniger trostlos ist als die Zerstörung der Natur durch Zivilisation? Fragwürdig ist auch Thoreaus wie seines Biografen Sympathie für den Abolitionisten und zugleich mörderischen Schlächter John Brown. Wie ja auch aus der Distanz von 200 Jahren sichtbar wird, dass vieles, was allgemein als Thoreaus "Suggestivkraft" gepriesen wird, subjektives Dekret, Predigt, Spruchweisheit ohne Begründung ist.

Verglichen etwa mit Ludwig Marcuses immer noch faszinierendem Buch "Amerikanisches Philosophieren" von 1959 wirkt Schäfers Monografie so frugal wie die Mahlzeiten Thoreaus in Walden. Gleichwohl schuldet man dem Autor Dank, dass er uns den intellektuellen Kauz und Dichter Henry David Thoreau noch einmal ganz nahegebracht hat.

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