Amerikanische Literatur:Zuflucht unter den Flügeln des Condors

Amerikanische Literatur: Jung und idealistisch: Robert Redford als der junge Condor in Sydney Pollacks Film. Der alte Condor ist dagegen ein Ausgebrannter.

Jung und idealistisch: Robert Redford als der junge Condor in Sydney Pollacks Film. Der alte Condor ist dagegen ein Ausgebrannter.

(Foto: Fox)

James Grady dekonstruiert in seinem Thriller "Die letzten Tage des Condors" das Genre des Agentenromans.

Von Fritz Göttler

Der Condor ist zurück, der idealistische, junge, ein wenig weltfremde CIA-Mann, der Kriminalromane auswertete für seine Firma und dann zum Whistleblower wurde in den Siebzigern . . . Er war nur zufällig einem Mordanschlag entkommen in "Die sechs Tage des Condor", dem ersten Roman von James Grady aus dem Jahr 1974, er schrieb ihn mit 24 Jahren, 1975 wurde er verfilmt von Sydney Pollack, unter dem Titel "Die drei Tage des Condor" und von Washington nach New York verlegt - eine der schönsten Zusammenarbeiten von Pollack und Robert Redford, der den Condor mit lässiger Prägnanz verkörperte.

Nun, nach vierzig Jahren, ist der Condor, nach diversen Zwischenauftritten in anderen Büchern Gradys, wieder da, in seinen "letzten Tagen". Aber die vielgenutzte Formel für Bestseller-Folgeromane greift hier nicht - ist der Condor wirklich zurück? Wo, in welcher Welt bewegt er sich. Und wer ist er?

Condor ist nicht wirklich bei sich in diesem Roman. Er schaut nicht mehr in die Spiegel. Aus einem Bücherwurm wurde ein Straßenköter, sagt James Grady selbst von ihm. Zuerst die Unschuld der Siebziger, dann, nach Watergate, der Zynismus des Profiagenten bis in die Neunziger hinein, zu Beginn des 21. Jahrhunderts schließlich die nackte Verrücktheit. Condor hat viele Jahre als radikaler CIA-Agent hinter sich und einige auch in einer geheimen CIA-Anstalt.

Nun arbeitet er, ruhiggestellt und grauhaarig, in der Library of Congress, in der Kellerabteilung Review & Resolution. Eine Grabeshöhle. Kistenweise werden ausgemusterte Bücher zu ihm gekarrt, er entscheidet, welche überleben dürfen. Wenn er abends nach Hause geht, ist er eins mit der Umwelt, auf sie sensibilisiert, ein Einzelgänger, aber kein Individuum. "WALK blinkte in Verkehrszeichenweiß und befreite ein weißes Strichmännchen. Ich hoffe, du kommst an dein Ziel, telepathierte der grauhaarige Mann dem weißen Strichmännchen im Lichtsignal, während er selbst die Straße für seine acht Blocks dauernde Reise mit dem Verkehr überquerte, der entlang der Independence Avenue floss."

Keine behagliche Spannungslektüre

Ein weißer Wagen taucht auf, der ihn zu verfolgen scheint - um ihn zusammenzufahren? "An der nächsten Ecke, Fourth Street, ließ er sich von der grünen Ampel nach rechts über die Straße schicken . . . Er schaffte es bis zum Bordstein. Sah sich nicht um, als er links abbog, seine übliche Route. Lass sie nicht das Gewicht deines Blicks spüren. Der Regen hörte zwei Blocks später auf, als er an der langen, niedrigen Baracke des Eastern Market vorbeistapfte, wo J. Edgar Hoover als Lieferjunge gearbeitet hatte, noch vor seiner Jagdzeit auf Linke und Subversive während der Palmer-Razzien im vergangenen Jahrhundert."

Man darf keine behagliche Spannungslektüre erwarten von diesem Buch, kein klassisches elegantes Doppel- und Dreierspiel, wie es etwa Olen Steinhauer gerade wieder zelebriert. James Grady dekonstruiert das Genre des Agentenromans, in der Welt des alten Condor gibt es keine stringenten Plots mehr, nur Aktionen von Tag zu Tag, Versuche, die Nacht zu überstehen.

Condor, der sich jetzt auch Vin nennt, steht immer noch unter Medikation, und er wird regelmäßig von Agenten der Homeland Security aufgesucht, getestet, schikaniert. Vor ihren Augen muss er die Hosen runterlassen und eine Urinprobe produzieren. Gradys Buch ist eine schonungslose Krankheitsstudie. Dreizehn Pillen am Tag. Posttraumatische Belastungsstörung. Entfremdung. Wiederkehrendes zeitweiliges dysfunktionales Verhalten.

Und wieder bleibt nur die Flucht durch die Stadt

Der Agentin Faye, mit der er sich zusammentun muss, als er, wie im ersten Roman, plötzlich von Killern verfolgt wird, erklärt er seine Situation: "Manchmal ist es, als wäre ich in einem Film. Ich verliere mich in der Zeit. Ich kann Erinnerungen nicht steuern. Ich erinnere mich an die erste Frau, die sich mir nackt gezeigt hat, aber nicht daran, wen ich umgebracht habe. Manchmal, wenn ich ans Töten denke, rieche ich ein Männerklo. Ich erinnere mich an Gassen in Beirut. Bars in Amsterdam. Flughäfen in Dschungeln. Ein Diner in Brooklyn. Autobahnen in L. A. . . . Dass ich angeschossen wurde. Zurückschoss. Wie ich Ihnen das Genick brechen könnte. Das Dewey-System. Den Auslöser, der Dashiell Hammett zu einem Linken machte. Lügen und Lachen und Krabbeltiere im Nacken, während ich eine Straße entlanggehe, an deren Namen ich mich nicht erinnern kann, und dass ein 1911er-Colt Kaliber .45 Automatik die Waffe meiner Wahl ist."

Das Pragmatische und das Pathologische gehen die irrsten Verbindungen ein in diesem Buch. Jeden Tag steckt Condor ein Blatt von einem Busch in Nachbars Garten in den Spalt seiner Haustür, um zu sehen, ob die Tür tagsüber von Fremden geöffnet wird, und "sichert" seine Wohnung mit einem Netz durchsichtiger Zahnseide über dem oberen Treppenabsatz - und dennoch findet er eines Abends einen Toten vor dem Kamin, mit Messern gekreuzigt, die Augen ausgestochen.

Und wieder ist Condor auf der Flucht durch die Stadt. Eine Flucht ohne Zufluchtsort, nur indem er permanent in Bewegung bleibt, auf der roten U-Bahn-Linie durch die Stadt, kann er den Verfolgern, den Killern entgehen. Und, paradoxerweise, von Faye konfrontiert werden. In einem brutalen Shootout versuchen die beiden in einer U-Bahnstation den Verfolgern zu entkommen, die sie aufgespürt haben, Stufe für Stufe, eine endlose Rolltreppe hinunter.

Keine Ehre. Keine Schuld. Keine Existenz, kein Personal

Ein paranoides Business, hat Sydney Pollack über die CIA gesagt, als er sie in seinem Film skizzierte. In James Gradys neuem Roman haben die Verstörung, die Unberechenbarkeit, die Paranoia die amerikanische Gesellschaft voll im Griff. Condor ist angekommen in der Welt der neuen Medien, das heißt der totalen Kontrolle - Überwachungskameras, Abhörung, GPS, Drohnen, immer neue Methoden, den Einzelnen aufzuspüren und festzusetzen.

Diese Manie, jedes einzelne Detail wahrzunehmen, als Signal oder Zeichen zu deuten, auf seine potenzielle Tödlichkeit hin zu lesen - die Agenten kommen nicht weg davon. Auf absurde Art befreiend wirkt es dann, wenn man sieht, wie eine tödliche Paketzustellung, wie sie schon im ersten Roman versucht wurde, erneut praktiziert wird.

Eine Gesellschaft, die nun ohne Hierarchien funktioniert, selbst in ihren Geheimdiensten, ohne Verantwortung - in ihrer Praxis sind die Agenten von ihren Gegnern, den einzelgängerischen Terroristen, nicht mehr zu unterscheiden. "Alles löst sich wie Dampf auf. Kein Name, kein Hauptsitz . . . Keine Ehre. Keine Schuld. Keine Existenz, kein Personal." Auch die Sprache löst sich auf, angesichts der unheimlichen Präsenz der Stadt. Logische und zeitliche Ordnungen sind außer Kraft gesetzt wie bei Thomas Pynchon, Philip K. Dick oder Joyce. Nur noch von den Songs unserer Zeit werden wir zusammengehalten. Condors großer Traum ist der von der Stille, von der Ruhe, oh, I could hide 'neath the wings of the bluebird as she sings.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Thriller Die letzten Tage des Condor stellt der Verlag hier zur Verfügung.

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