Amerikanische Literatur:Verletzungen in Sprache übersetzt

John Darnielle schreibt raue Folksongs, sein Roman "Rekorder" zeigt, dass er auch der langen Form das Äußerste abverlangt.

Von Karin Janker

Edinburgh International Book Festival

Der Musiker und Schriftsteller John Darnielle.

(Foto: Roberto Ricciuti/Getty)

So wie kaum ein Sprinter im Marathon besteht, gibt es wenige Songschreiber, die den Tempowechsel von der kurzen zur langen Form des Romans beherrschen. Leonard Cohen und Patti Smith ist es gelungen, andere brillante Songschreiber, von Bob Dylan bis Morrissey, haben sich an der Prosa versucht und sind gescheitert. Nun aber ist wieder ein Musiker als großer Erzähler zu entdecken: John Darnielle, Frontmann und häufig einziges Mitglied der Band The Mountain Goats. Seit 1991 veröffentlicht er unter diesem Namen Alben, zuletzt "Goths" (2017), "Beat the Champ" (2015) und "Transcendental Youth" (2012). Jedes einzelne ein musikalisches und erzählerisches Erlebnis. 2014 erschien sein Romandebüt "Wolf in White Van"; und sein gerade auf Deutsch erschienener zweiter Roman "Rekorder" beweist, dass der Erfolg des Erstlings kein Zufall war.

Seitdem überschlagen sich die Kritiker: Der New Yorker bezeichnet Darnielle als besten Texter außerhalb des Hip-Hop, der Rolling Stone nennt ihn den "besten Geschichtenerzähler der Rockmusik". "Wolf in White Van" schaffte es aus dem Stand auf die Longlist des National Book Award, obwohl kaum ein Rezensent eine Inhaltsangabe der Handlung zu geben vermag, in deren Mittelpunkt ein Junge steht, dessen Gesicht nach einem Selbstmordversuch entstellt ist. Die Ehrungen erhält Darnielle zu Recht, denn er besitzt nicht nur ein untrügliches Gespür für gute Geschichten, sondern auch den Mut, sie auf eine Weise zu erzählen, die das Publikum eher über- als unterfordert.

Das tat er schon in seinen Songs, die oft auf Konzeptalben erscheinen und sich mit abseitigen Themen beschäftigen: Profi-Wrestling, Rollenspiele, Death Metal, Fantasy-Comics, Bibel-Psalmen. Darnielle fabriziert aus alldem keinen postmodernen Eklektizismus, er verleiht gerade dem Abseitigen Gravitas und Ernsthaftigkeit, indem er es in Erzählungen einwebt.

Der Protagonist arbeitet in einer Videothek, weil ihm nichts Besseres einfällt

Sein neuer Roman "Rekorder" beginnt mit der Geschichte von Jeremy Heldt, der in einer Leihvideothek jobbt, weil ihm nichts Besseres einfällt. Solche Videotheken sind verlorene Orte, es braucht sie nicht mehr in Zeiten des Internets. Die Gesellschaft hat sich ihrer entledigt. Genau das reizt Darnielle, ihnen eine Geschichte zu widmen. Jeremy entdeckt auf mehreren Videokassetten mysteriöse Filmschnipsel, verstörende Szenen aus offensichtlich selbstgedrehten Videos. Zunächst widerwillig, dann aber mit wachsendem Enthusiasmus macht der Junge sich auf die Suche nach dem Geheimnis hinter diesen rätselhaften Botschaften. Immerhin bringen sie ein wenig Abwechslung in sein Leben, sie durchbrechen das hilflose Schweigen seines Vaters beim Abendessen, der nicht über den Tod seiner Frau hinwegkommt.

Darnielle, 50 Jahre alt und Vater zweier Söhne, erzählt von Außenseitern und Unverstandenen, oft sind es seine eigenen Geschichten. Als er fünf Jahre alt war, trennten sich seine Eltern. Der Stiefvater verprügelte ihn, seine Schwester, seine Mutter. John flüchtete in Fantasy-Welten, fing an sich selbst zu verletzen. Schließlich begann er, harte Drogen zu nehmen, Heroin und Methamphetamin. Wenn er an diese Zeit zurückdenke, erinnere er sich an einen schlechten Menschen: "Ich denke nicht an jemanden, der darauf wartete, gerettet zu werden", sagt er im Interview mit dem Rolling Stone. "Ich musste erst zu einem guten Menschen werden."

Nach der Schule begann er eine Ausbildung zum Krankenpfleger für die Psychiatrie. Die Erfahrungen, die er dort mit Patienten machte, prägen nicht nur sein Songwriting. Im neuen Roman tritt manchmal unvermittelt eine Ich-Erzählerin auf, in deren Stimme Darnielles Biographie nachklingt: "Ich habe Kinder kennengelernt, die Dinge durchgemacht haben, die die meisten Erwachsenen an den Rand des Wahnsinns getrieben hätten. (...) Doch Widerstandsfähigkeit bedeutet nur, dass etwas seine Form bewahrt. Dass es nicht zerbricht oder aufhört zu funktionieren."

Für Darnielle war das Schreiben eine Zuflucht. Bis heute geht es ihm auch in seinen Songs um die Texte und darum, Verletzungen in Sprache zu übersetzen. In "Broom People" etwa singt er: "I write down good reasons to freeze to death / in my spiral-ring notebook". Gute Gründe aufzuschreiben, warum jemand in seinem Elternhaus zu Tode erfriert - Darnielles traumatische Beziehung zu seinem Stiefvater ist noch immer ein Antrieb seines Schreibens.

Darnielle beherrscht beide Genres virtuos, den Roman wie den Folksong

525 Songs hat Darnielle laut der Fan-Webseite themountaingoats.net seit 1991 aufgenommen. Dass er sich gut zwanzig Jahre nach der ersten Aufnahme auch an die lange Form wagt, ist nur folgerichtig für einen Dichter wie ihn, der in seiner Poesie den Tempowechsel so geschickt einsetzt wie es vielleicht nur ein Musiker kann. Darnielle beherrscht beide Genres virtuos: den Folksong und den Roman. Daraus, dass seine Kunst aus virtuosem Umgang mit Sprache besteht, ergibt sich allerdings auch das Problem der deutschen Übersetzung von "Rekorder": So wie man einen Song nicht ohne Weiteres übersetzen kann, verliert auch der Roman in der Übersetzung einen Teil seiner Kraft. Schon der Titel ist eine Reduktion: "Universal Harvester", der Originaltitel, ist nicht nur eine Mähdrescher-Marke, sondern auch Metapher für den Sensenmann. Anders als beim Erstling, dessen Titel "Wolf in White Van" unübersetzt blieb, hat der deutsche Verlag sich diesmal für einen vermeintlich sprechenderen Titel entschieden. Schwierig, wenn das Buch sich so gar nicht auf seinen Inhalt beschränken lässt. Dieser Schwund an sprachlicher Tiefe zieht sich durch die gesamte Übersetzung.

"Rekorder" spielt auf drei Zeitebenen, Ort des Geschehens ist ein gottverlassenes Fleckchen Erde, irgendwo in Iowa, inmitten endloser Maisfelder. Dort sitzt Jeremy Tag für Tag hinter dem Tresen der Videothek. Die Trauer über seine Mutter hat ein schwarzes Loch bei ihm gerissen. Keine Wut, keine Verzweiflung, nur Hilflosigkeit. Bald wird deutlich, dass der Verlust eines geliebten Menschen das eigentliche Thema des Romans ist. Ausgesprochen wird dies nie, Sprachlosigkeit lagert über allem.

Parallel zu Jeremys Geschichte, aber 20 Jahre früher, erzählt der zweite Teil des Romans davon, wie Irene, eine junge Mutter, in die Hände einer Sekte gerät. Eines Tages verschwindet sie plötzlich; auch sie lässt eine Familie zurück, in der ihr Verschwinden nie verwunden wird. Der letzte Teil schließlich führt einige lose Enden zusammen, aber nicht alle. Die Erzählstimme unterlässt es, Schlussfolgerungen zu ziehen; sie entzieht sich. Am Ende steht der Verlust jeglicher Gewissheit, welche Version der Geschichte nun die gültige ist.

"Man muss näher heran, als man eigentlich will, um zu sehen, wie es genau funktioniert", heißt es an einer Stelle. Und manchmal muss man auch so nah heran, dass die Umrisse verschwimmen. Der Vergleich mit David-Lynch-Filmen, mit dem der Verlag den Roman ankündigt, ist insoweit stimmig, als dass auch "Rekorder" seine Leser dazu drängt, hinter das Fassbare zu dringen. John Darnielle versteht es, aus seiner unprätentiösen Sprache ein dichtes Netz zu spinnen, das das Trauma in seiner Unbegreiflichkeit fühlbar macht. Sich immer wieder in die Leitmotive des Romans - Schmerz, Verlust, Trauer - einzufühlen, ist herausfordernd. Lässt man es zu, wird eine universale Einsamkeit spürbar; sie bleibt die einzige Gewissheit, die am Ende Bestand haben wird.

John Darnielle: Rekorder. Roman. Aus dem Englischen von Tobias Schnettler. Eichborn, Köln 2017. 286 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.

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