Amerikanische Literatur:Ruf es vom Berg

Amerikanische Literatur: James Baldwin: Von dieser Welt. Roman. Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2018. 320 Seiten, 22 Euro. E-Book 18,99 Euro.

James Baldwin: Von dieser Welt. Roman. Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2018. 320 Seiten, 22 Euro. E-Book 18,99 Euro.

James Baldwins erster Roman, der nun in einer neuen deutschen Übersetzung erscheint, ist auch eine biblische Prophetie. Die an sich verdienstvolle Neuausgabe spielt das aber herunter. Ein erläuternder Anhang hätte hier helfen können.

Von Gustav Seibt

An seinem vierzehnten Geburtstag erklimmt John Grimes, der Held von James Baldwins erstem Roman, einen Hügel im Central Park von New York. Wir sind in der Mitte der Dreißigerjahre. Auf halbem Weg zurückschauend blickt er auf den weiten Himmel, die wolkenverhangene Skyline der Stadt, und ihn erfasst, er weiß nicht wieso, "ein Jubel und ein Gefühl von Macht", er rennt den Hügel hoch "wie angetrieben oder wie ein Irrer, bereit, sich kopfüber in die Stadt zu stürzen, die vor ihm lag in ihrem Glanz". Der Titel des Romans lautet auf amerikanisch "Go Tell it on the Mountain", also "Geh, ruf es vom Berg", und das ist der Beginn eines berühmten afroamerikanischen Spirituals, das aus dem amerikanischen Bürgerkrieg kommt, der um den Fortbestand der Sklaverei in den Vereinigten Staaten geführt wurde. John, der junge Schwarze, um dessen Leben es geht, wohnt in Harlem, als Sohn eines aus dem Süden eingewanderten baptistischen Predigers, der mit biblischen Donnerworten sündige Menschen zur Umkehr ruft, Sonntag für Sonntag.

Diese Gebets-, Bibel- und Predigtwochenenden schildert Baldwin nicht nur, sie geben seinem Roman auch die Form. Der Hauptteil besteht aus langen "Gebeten", eigentlich Beichten, von Johns Familie, seiner Eltern und seiner Tante. Diese "Gebete" sind eine Mischung aus biblischer Prophetie und inneren Monologen im Stile William Faulkners. Baldwins Roman ist in den Jahren um 1950 entstanden, die Monologe erzählen die Geschichte einer Familie aus drei verschiedenen Blickwinkeln, und erst daraus ergibt sich ein Bild von düster-grausamer Schönheit, in dem Elend, Sünde, Lügen und verzehrende Erlösungsbedürftigkeit ineinanderspielen und jede Botschaft infrage stellen.

In der Spannung zwischen Gosse und Prophetie entwickelt diese Geschichte ihre Wirkung

Und deshalb muss schon die vor dem großen gottesdienstlichen Familiengerichtstag liegende Geburtstagsepisode, der Gipfelsturm des Vierzehnjährigen, in einem biblischen Licht gelesen werden. Sie zitiert die dritte Versuchung Jesu, bei der ihn der Teufel aus der Wüste nach Jerusalem führt und ihn auffordert: "Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz dich von hier hinab", und zwar nachdem er ihm in der zweiten Versuchung von einem Berg aus die Macht und die Herrlichkeit der unten liegende Reiche versprochen hatte. Da hatte Jesu Antwort geheißen: "Vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen."

Sich niederwerfen, das muss John dann im Tempel seines Vaters - einer einfachen Ladenkirche für die Armen -, wo er, buchstäblich im Staube liegend, umgeben von verzückten Gläubigen durch die Hölle von Zweifel, Wut und Hass muss, bevor er zu einer vorläufigen Erlösung im Glauben findet. Und das ist eines der beeindruckendsten Stücke religiöser Literatur, die man in modernen westlichen Sprachen überhaupt lesen kann. Man kann also fragen, warum die Neuübersetzung dieses gewaltigen Buches mit dem vage-blassen Titel "Von dieser Welt" überschrieben und damit um einen wichtigen Verweis auf seine eigentümliche Sprachsphäre beraubt wurde. Dabei hat das amerikanische Spiritual im Deutschen sogar einen mindestens bei evangelischen Christen gut bekannten Stellvertreter als "Komm, sag es allen weiter". Geh, ruf es vom Berg, dass Jesus Christus geboren ist: Darum geht es. Das aber dürfte für viele Leser heute, zumal in Deutschland, tief befremdlich sein.

Die Bezüge zu Bibel und Kirchenliedern, die das Gewebe des Romans durchziehen, sind keine äußerlichen Bildungsreferenzen. Sie beziehen sich auf die nahezu einzigen Schriften, die den in Elend und Verachtung lebenden Menschen des Buches überhaupt zugänglich und oft sogar innig vertraut sind. Sie gehören in die Welt von Schmutz, Armut, sexueller Gier, Gewalt, Verachtung und Hass, die diese Welt im Schatten des großen amerikanischen Rassenkonflikts prägen und die Baldwin mit brennender Intensität zum Leben erweckt. Der hohe Ton ist das Gegenüber des gesellschaftlichen Jammers und der naturalistischen Mimesis von Redeweisen und Dialekt. Propheten und Sünder und Nigger, wie sich die Figuren in dem Roman mit einer Art von Unterdrückungsstolz unentwegt gegenseitig nennen - das sind die Menschen hier. Im Medium dieser Spannung zwischen Gosse und Prophetie entwickeln die Lebensgeschichten der verzweigten Familien amerikanischer Schwarzer, die hier vorgeführt werden, überhaupt erst ihre umwerfende Wirkung. Man liest immer ergriffener und fragt sich: Wie kann das sein, dass James Baldwin ein bei uns zuletzt kaum noch präsenter Autor war, am gegenwärtigsten noch mit der schwulen Liebesgeschichte "Giovannis Zimmer", sonst aber doch historisch abgebucht als Stimme der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die mit der Präsidentschaft Obamas ein entscheidendes Ziel erreicht zu haben schien? Nun, dieser Erfolg ist inzwischen so fraglich geworden, dass Baldwin in den USA längst eine neue Rezeption erlebt, mit Werkausgaben, Biografien, dokumentarischen Filmen.

In diese Welle gehört auch die Ausgabe, mit der dtv jetzt eine Reihe von Neuübersetzungen beginnt. Miriam Mandelkows Version ist eingängig, klugerweise verzichtet sie auf die Eindeutschung psalmenartiger Kirchenlieder, die den Text durchziehen. Allerdings hätte ein Anhang nicht nur diese übersetzen können, sondern vor allem einen Stellenkommentar zu den wichtigsten biblischen Hintergründen bereitstellen können, auch als Referenz an die Intellektualität des Autors, der hier nicht einfach schmerzhafte Autobiografik produzierte, sondern kunstvolle Literatur.

Denn natürlich ist dieser Erstling weithin autobiografisch, er beschreibt in vielen Zügen Baldwins Familie, dazu eine historische Wirklichkeit, die in der Generation der Großeltern noch bis in Südstaatensklaverei zurückreicht. John erlebt wie der Evangelist, nach dem er benannt ist, eine Apokalypse - die Sünden und Leiden seiner Familie liegen ihm brennend klar vor Augen, aber er meint, die Erlösung gefunden zu haben. Und doch endet der Roman im Zweifel, denn eine Schwester seines Vaters kann nicht glauben, dafür weiß sie schon zu viel von den geheimen Sünden ihre predigenden Bruders. Und Baldwins Menschlichkeit kommt ohne Frömmelei aus - sie nimmt schon das nächste große Thema seiner Kunst in den Blick, die Sexualität.

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