Amerikanische Literatur:Krieg ohne Schlacht

Für seinen Roman "Alles Licht, das wir nicht sehen", erhält Anthony Doerr Ende Mai den Pulitzer-Preis 2015 - warum nur?

Von Hans-Peter Kunisch

Zuerst fallen Flugblätter vom Himmel, die zum Verlassen der Stadt raten, dann die Bomben, vor denen die Flugblätter gewarnt haben. "Alles Licht, das wir nicht sehen" heißt der neue Roman des 41jährigen Anthony Doerr, für den der in Boise, Idaho lebende Autor am 28.Mai den Pulitzerpreis erhält. Es ist ein Buch, das mit großen Gesten in kleinen Schritten beginnt, und überraschenderweise bei nur so hingetupften Kapiteln von wenigen Seiten bleibt.

Oft sind es kontrastierende Momentaufnahmen aus dem Leben der beiden Hauptfiguren: Marie-Laure, ein an unheilbarem grauem Star erkranktes, französisches Mädchen, flieht mit seinem Vater, einem Museumsschlosser, 1940 vor den Deutschen zu einem Verwandten nach Saint-Malo. Der Vater soll das "Meer der Flammen", einen legendären 133-Karat-Diamanten aus dem Besitz des Pariser Museums für Naturgeschichte in Sicherheit bringen. Werner Hausner hingegen, Marie-Laures Gegenpart, wächst, zwei Jahre älter, 1926 geboren, in einem Waisenhaus der Zeche Zollverein auf.

Pulitzer Prize Winners

Hohe Schmalztoleranz: Anthony Doerr.

(Foto: Isabelle Selby Hire/dpa)

Durch den Besuch der Naumburger "Napola" Schulpforta, technisches Geschick und Begeisterung für das neue Medium Radio, bringt er es zum Sonderaufklärer für Feindsender. Marie-Laure und Werner werden sich im besetzten St. Malo begegnen, bevor es im August 1944 von den Amerikanern befreit wird, doch bis dahin sind es fünfhundert Seiten. Die Sprache des Flugblatt-Auftakts lebt von einfachen, kräftigen Bildern: "Bei Tagesanbruch regnen sie vom Himmel. Sie wehen über die Befestigungsmauern, fliegen radschlagend über die Dächer und flattern in die Schluchten zwischen den Häusern."

Für seinen Romanerstling "Winklers Traum vom Wasser" wurde Doerr viel gelobt, aber das Ausmaß des amerikanischen Erfolgs von "Alles Licht" kam selbst für den Verlag Scribner überraschend: 60 000 Exemplare wurden gedruckt - inzwischen sind 1,6 Millionen verkauft. Der "literarische Jackpot" sei geknackt, titelte die New York Times, die den Roman zu ihrem "Buch des Jahres" machte.

Umso seltsamer, dass die deutsche Übersetzung, die im Herbst 2014 erschien, lautlos unterging. Im März lieferte der Beck-Verlag eine "Sonderausgabe" nach. Im April kam die Nachricht vom Pulitzer-Preis. Nun hoffe man auf eine "zweite Chance". Doch wer sich das Buch ansieht, ahnt die Gründe für den amerikanischen Erfolg, würde aber auch verstehen, wenn er in Deutschland weiter ausbliebe.

Alles Licht, das wir nicht sehen

Eine Leseprobe des Romans stellt der Verlag hier zur Verfügung.

"Alles Licht" ist tatsächlich ein "ungewöhnliches Kriegsbuch", wie amerikanische Rezensionen jubeln. Weder die angelsächsisch beliebte Schlachtenhölle noch der Holocaust spielt die Hauptrolle. Stattdessen rückt das Buch ein blindes Mädchen ins Zentrum, dessen Mutter im Kindbett gestorben ist, ein so rührendes wie alltägliches Schicksal. Es ist ein effektsicherer Einfall, eine zierliche Verkörperung der Unschuld, die als Botin an der Résistance teilnimmt, an den Rand der Schrecken des Zweiten Weltkriegs zu stellen.

Erblinden ist eine Entdeckung der Unsicherheit: "(. . .) ihre Finger sind zu groß, immer zu groß. Was ist Blindheit? Wo eine Mauer sein sollte, greifen ihre Hände ins Leere. Wo nichts sein sollte, läuft sie gegen einen Tisch. Autos brummen durch die Straßen, Blätter flüstern am Himmel, Blut rauscht durchs Innenohr." Kurze, aber emotionsgeladen lyrische Sätze mit Human Touch setzen den Grundton. Doch je dicker ein Autor aufträgt, desto näher liegt die Grenze zum Kitsch. Doerr, der gern Flugblätter und Landschaften poetisch verzaubert ("ein Morgen Ende Februar, die Luft duftet nach Regen und Ruhe"), setzt auf einfühlsames Pathos. Bei Marie-Laure trägt das noch am ehesten. In Untiefen aber gerät seine Sprache, wenn sie Werners Erziehung in der Napola schildert. Doerr legt auch hier viel Emphase in Atmosphäre und Charaktere. Aber statt der märchenhaften Zerbrechlichkeit um Marie-Laure entsteht, als saftiger Kontrast, ein übler Schauerroman.

Alles Licht, das wir nicht sehen

Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen. Roman. A. d. Engl. v. W. Löcher-Lawrence. C. H. Beck Verlag, München 2015. 518 Seiten, 22,95 Euro.

Als ein Russe oder Pole, "zerlumpt" und "skelettdünn", den "Jungmännern" der Napola mitten in der Nacht an einem "in den Schnee getriebenen" Pfahl vorgeführt wird, weil er einen Liter Milch gestohlen habe, "wölbt sich" über der grausigen Szene "ein Sternendach". Jeder Junge muss einen Eimer kaltes Wasser über den Mann schütten. Doerr kann das Poetisieren nicht lassen: "Applaus steigt in die eiskalte Nacht auf." Dann: "Eine Woche lang hängt der tote Gefangene an den Pfahl im Hof gebunden, das Fleisch grau gefroren. Jungen bleiben bei ihm stehen und fragen nach dem Weg. (. . .) Nach ein paar Tagen stellt sich ein Krähenpärchen auf seine Schultern und meißelt an ihm herum."

Tief langt Doerr da in die Gruselkiste der Young Adult Fiction, die gerne Geschmacksverstärker verwendet und auf Deutsch klingt wie gefühlig-verhobener Neo-Expressionismus. Was man nicht dem Übersetzer in die Schuhe schieben sollte. Löcher-Lawrence überträgt recht genau, was Doerr ihm angerichtet hat. Man darf vermuten, dass, was in der Napola speziell wild, "diabolisch dunkel" klingt, in den USA unter Schaudern als "very german" durchgeht.

Das klappt hierzulande nicht. Der Kriegsbestseller-Geschmack ist weniger schmalztolerant. Der Kontrast zur lieben Blinden lässt die Gewaltkitschbombe erst recht explodieren. Zu klar ist auch, dass viele Nazi-Figuren, etwa der krebsleidende Stabsfeldwebel, der sich vom Super-Diamanten Heilung verspricht, bloß als verlässlichen Background-Grusel eingesetzt sind. Geschichte interessiert diesen Autor nicht. Durch die Blume hat das auch William T. Vollmann gesagt, dessen "Europe Central", ein kantiges Weltkriegs-Epos, sich an die Quellen wagt. In einer höflich-amüsanten Kritik vergleicht Vollmann, ebenfalls in der New York Times, "Alles Licht" mit "Raiders of the Lost Ark", das "by the way (. . .) highly enjoyable for its frenetic silliness" sei, aber in "Alles Licht" blitze immer wieder wirkliches Talent auf. So habe er auf mehr gewartet.

So schnell wird das wohl nichts werden. Beflügelt vom überraschenden Erfolg seines so "literarischen" Buchs, gab Anthony Doerr zu Protokoll, er spiele gerade mit drei neuen Ideen: eine Geschichte handle von der Belagerung von Konstantinopel, die zweite vom Bau des Panama-Kanals, die dritte von der Suche nach einem bewohnbaren Planeten. Doerrs "Alles Licht, das wir nicht sehen" treibt derweil ordentlich Blüten, die 20th Century Fox verfilmt den Roman, und der Pulitzer-Preis, den von Faulkner bis Cormac McCarthy alle Guten hatten, ist auch nicht mehr das, was er mal war.

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