Amerikanische Literatur:Immer der Kleinste

Shteyngart Gary  (Kleiner Versager - Rowohlt PR Material nur für die aktuelle Berichterstattung)

Die Kindheit ein Paradies? Gary am Telefon - er hatte einen heißen Draht zu Ungemach und Ungeschick.

(Foto: Rowohlt)

In seiner Autobiografie "Kleiner Versager" spottet Gary Shteyngart über die USA, verkrampfte Exilrussen und sich selbst.

Von Jörg Häntzschel

Als Gary Shteyngart in St. Petersburg aufwuchs, hieß er noch Igor, und Petersburg Leningrad. Als seine Eltern dann in die USA emigrierten, machten sie aus Igor "Gary", wie in Gary Cooper. Sein Vater nannte ihn allerdings weiter "Rotznase", die Mutter "Failurtschka", kleiner Versager. Für die Amerikaner lag das Problem eher beim Nachnamen. Sie schrieben Shitgart oder Shygart.

Shteyngart selbst hatte lange geglaubt, der Name sei eine von der Geschichte zermalmte Version von "Steingarten", "ein wunderschöner jüdisch-deutscher Zen-Name". Bis er erfährt, dass auch dessen zweite Silbe von irgendeinem Bürokraten verunstaltet wurde. Die Familie hieß Steinhorn. Er war als Igor Steinhorn also "in Wahrheit zum bayerischen Pornostar bestimmt". Kein Wunder also, dass er an einer dissoziativen Identitätsstörung leidet.

Shteyngarts Helden waren dem Autor nie sehr fern, ob im "Handbuch für den russischen Debütanten" oder in "Super Sad True Love Story". Sein neues Werk, "Kleiner Versager" aber soll das Buch "ohne Netz und doppelten Boden" werden. Der Autor will auf Masken verzichten. Die Wahrheit muss raus, er schreibt seine Autobiografie. Mit Anfang 40. Und öffnet, als seien wir alte Freunde, sogar das Fotoalbum. Ob das wirklich so mutig ist, wie er behauptet, oder nicht auch etwas eitel, diese Frage stellt sich nur der Leser.

Zwei Dinge, das muss man Shteyngart lassen, unterscheiden ihn von den meisten anderen in diesem Alter. Er hat mehr als genug zu erzählen. Und er tut es auf begnadete Weise. Wenn auch die größten Dramen sich abspielen, bevor Igor in die nach Kohl riechende sozialistische Welt geboren wird. Jede Tragödie des 20. Jahrhunderts hat in seiner Familie Opfer hinterlassen: Seine Verwandten, beide Familien sind jüdisch, werden von Deutschen erschossen, im KZ ermordet, verhungern, verlieren ihre Eltern, springen aus dem Fenster, kommen in Arbeitslager. Ein paar lakonische Striche genügen Shteyngart, um das Russland seiner Familie zu zeichnen, in dem lauter Urgroßonkel, Großtanten, Cousinen und deren Großväter frierend, am Ende ihrer Kräfte um ihr Leben rennen, die Beine bis zu den Knien im Schlamm.

Von all dem erfährt Igor/Gary erst viel später. Und noch später, auf der Couch seines Analytikers in New York, findet er heraus, wie alle diese Verletzungen und Katastrophen wie Wellen auf einem See durch die Generationen wandern. Vorerst weiß er nur, dass er keine Luft bekommt. Und dass die Angst vor der Atemnot und die schauerlichen russischen Heilmethoden sein Leben fast ebenso einschnüren wie das Asthma selbst. Er ist immer krank, immer der Kleinste, immer allein und immer unter Druck. Seine Mutter und sein Vater, der Ingenieur ist, aber eigentlich Opernsänger werden wollte, zerdrücken ihn fast mit ihren Erwartungen. Dabei schafft Igor es ja kaum die Sprossenwand hinauf. Wenn er oben ist, wirft ihn sein innig geliebter Vater wieder hinunter, um die Höhenangst des Kleinen zu therapieren.

Auch nach Amerika wandert die Familie vor allem seiner Zukunft zuliebe aus. Dank Kortison atmet er freier. Doch an die Stelle des Juden- und Asthma-Malus tritt jetzt der Russen-Malus. Irgendetwas ist es immer. An der jüdischen Schule machen sie ihn wegen seiner Ostblock-Klamotten und seines Akzents fertig. Dass er alles von Tschechow kennt, weil die Eltern keinen Fernseher haben, hilft ihm nicht.

Die Momente von Scham, Peinlichkeit und kulturellen Fehltritten reißen nie ab. Shteyngart macht aus jedem eine glanzvolle Satire. Wie die Episode, als Gary auf einer Reise mit den Eltern glaubt, sein Traum vom ersten Essen bei McDonald's würde endlich wahr - bis die Mutter am Restauranttisch heimlich den mitgebrachten Rote-Bete-Salat hervorkramt. Oder die Szene, als die Familie per Post über einen 10-Millionen-Dollar-Gewinn informiert wird, und gleich erfreut daran geht, die einzige Formalität zu erledigen, die der Auszahlung noch im Weg steht: vier Zeitschriftenabos. Und so ist es auch später noch, in der jüdischen Ferienkolonie in den Catskills, wo Gary sich nicht traut, die Mädchen anzusprechen, weil "Oh, hi there" immer als "Ocht Haiser" aus seinem Mund kommt, "vermutlich der Name eines türkischen Politikers". Oder bei der Siegesfeier von Bush sen., als der Jungrepublikaner Gary für einen Kellner gehalten wird.

Doch Shteyngarts Klaviatur ist breit. Er macht sich nicht nur über verkrampfte Exilrussen wie sich selbst lustig, sondern ebenso über das Land, das sich weigert, ihres zu werden. Wie ein Comedian schießt er eine Salve Lacher ab, um dann wieder todernst zu werden. "Eins der wenigen Bilder, die damals entstanden. Wir waren zu sehr mit Leiden beschäftigt", untertitelt er ein Bild mit seiner Mutter in Queens. Genau das macht sein Buch so anrührend.

Rettung verspricht allein das Schreiben. Das entdeckt er in der jüdischen Grundschule. Als er aus seinem Weltraumabenteuer "Die Prüfunk" vorliest, hängt die ganze Klasse an seinen Lippen. Es ist das Erlebnis, das er nun immer wieder haben will.

Gary wird erwachsen. Er fragt sich erstmals, warum sein Vater ihn ständig schlägt. Er entdeckt mit jahrelanger Verspätung Manhattan, das dem in Queens Steckengebliebenen so großartig erscheint wie Amerika dem russischen Neuankömmling. Er gibt den Rassismus zugunsten des Alkoholismus auf, geht ans College, wird endlich von Frauen geliebt. Und veröffentlicht mit gerade einmal 30 seinen ersten Roman, das "Handbuch".

Doch je näher das erzählte dem erzählenden Ich kommt, je glücklicher und amerikanischer Gary wird, desto mehr droht nun seinerseits dem Buch eine Identitätskrise. Der "Kleine Versager" ist immer weniger einer. Er liebt gutes Essen, arbeitet im Landhaus und schreibt für den New Yorker. Es war amüsanter zu lesen, wie Failurtschka das Auto der Freundin gegen eine Wand rammte, als zu erfahren, dass der Literaturstar Shteyngart heute einen Volvo least. Auch bei der etwas betulichen Schilderung seiner Läuterung von Suff und Narzissmus durch Psychoanalyse und Vernunft entgleitet ihm beinahe der Leser.

Doch dann gelingt Shteyngart das Unmögliche: Er bringt die Geschichte eines halben Lebens zu einem bewegenden Finale. Mit seinen Eltern fliegt er zu einer gemeinsamen Reise nach St. Petersburg, ihrer ersten, um mit ihnen die Welt zu besichtigen, aus der sie sich damals geschält haben wie aus einem Mantel. Unverwandt stehen sie da und fühlen sich doppelt fremd: als anders Gewordene in einer anderen Stadt. Die Stadt sagt ihnen nichts. Aber sie können sich nun all das sagen, was immer verschwiegen werden musste. Glücklich, wer so Frieden mit seinen Eltern und seiner Herkunft machen kann und nun, mit etwas Verspätung, wirklich erwachsen ist.

Gary Shteyngart: Kleiner Versager. Aus dem Englischen von Mayela Gerhardt. Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 480 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.

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