Amerikanische Literatur:"Geraubte Körper bearbeiteten geraubtes Land"

Plantations Slavery

Das Denkmal einer Sklaven-Plantage in Edgard, Louisiana, USA.

(Foto: picture alliance/AP Images)

Colson Whiteheads "Underground Railroad" über Rassismus und Sklaverei im 19. Jahrhundert ist in den USA das Buch der Stunde.

Von Christoph Bartmann

Fast jedes Schulkind in den USA hat schon einmal von der "Underground Railroad" gehört, jener geheimen Infrastruktur aus Pfaden und sicheren Häusern, auf denen, unterstützt oft von weißen Fluchthelfern und Schleusern, afroamerikanische Sklaven in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Weg in die Freiheit fanden. Seit Bill Clintons Präsidentschaft ist dieses legendäre "Network to Freedom" ein Teil des "National Park Service" und kann in seinen Überresten vielerorts zwischen dem Mittleren Westen und Neuengland besichtigt werden. Auch die Erinnerungen der glücklich Geflohenen sind wohl dokumentiert, etwa in den "Underground Railroad Records" des Abolitionisten William Still von 1872. Die "Underground Railroad", dramatisch, wahr, positiv und "inspirational", wie sie ist, hat alle Qualitäten einer "Great American Story".

Was mag den Autor bewegt haben, seiner Geschichte diesen Drall ins Fantastische zu geben?

Gerade die vergangenen Jahre haben, wohl auch beflügelt von Obamas Präsidentschaft, einen neuen Boom von dokumentarischer Literatur zur "Underground Railroad" ausgelöst. Im Sommer 2016 erschien dann Colson Whiteheads gleichnamiger Roman, gerade noch rechtzeitig, dass der bald scheidende Präsident es zu seiner Ferienlektüre erklären konnte. Vorher hatte schon die New York Times, was sie sonst selten tut, größere Teile des Buches vorab gedruckt. Etwas später wählte Oprah Winfrey das Buch für ihren "Book Club" aus, im Herbst folgte der "National Book Award" und in diesem Jahr der Pulitzer-Preis. Weitere Ehrungen dürften folgen. Dass inzwischen im Weißen Haus ein Präsident regiert, von dem keiner weiß, ob und was er im Urlaub liest, hat der Wichtigkeit von Whiteheads Buch eher noch Auftrieb gegeben. Nach Trump, Bannon und dem Ku Klux Klan in Charlottesville hat "Black lives matter" eine Dringlichkeit bekommen, die auch Colson Whitehead nicht hat vorhersehen können.

Was ist nun dran an "Underground Railroad", nicht am Phänomen, sondern an Whiteheads Buch selbst? Zunächst fällt auf, dass ihm die vielfach überlieferten historischen Tatsachen ziemlich egal sind. Whitehead hat vieles davon gelesen, aber noch mehr frei erfunden. Nichts anderes war, wenn man schon einmal etwas von ihm gelesen hat (etwa "The Intuitionist" von 2001), zu erwarten. Die "Underground Railroad" selbst ist bei Whitehead eine Erfindung, es gibt sie hier nämlich wirklich, als unterirdisch, wenn auch unregelmäßig, verkehrende Dampfeisenbahn, und nicht etwa nur als Metapher für ein undercover betriebenes Verkehrsmittel.

Es wird nicht klar, wann genau Whiteheads Roman spielt. Als einzige Jahreszahl taucht einmal 1820 auf. Zu dieser Zeit gab es jedenfalls weder Züge noch gar Dampflokomotiven, die zum Zweck der Tarnung unterirdisch fuhren. Und eine "Underground Railroad" existierte südlich der Mason-Dixon-Linie, welche die Nord- von den Südstaaten trennte, nicht einmal im metaphorischen Sinn. Die sagenhafte Bahn, mit deren Hilfe Whiteheads Protagonistin Cora von der Plantage des grausamen Sklavenhalters Randall durch mannigfache Gefahren in die Freiheit entkommt, hat es nie gegeben. Auch an anderen Stellen bewegt sich Whitehead, wohlwissend, wie zu vermuten ist, auf anachronistischem Boden. Das Griffin Building in South Carolina hat zwölf Stockwerke und sogar einen Fahrstuhl, mit dem auch Cora einmal fährt. Der erste Personenaufzug wurde erst 1853 in New York in Betrieb genommen.

Das kann dem Romancier herzlich egal sein, die Frage bleibt indes, was ihn bewegt haben könnte, seiner Geschichte diesen Drall ins Fantastische zu geben. Whitehead ist ein Modernist, ihn interessiert Thomas Pynchon sicher mehr als Harriet Beecher Stowe. Vielleicht sind ja die Dampfeisenbahn und der Aufzug als Elemente einer afrofuturistischen Science Fiction zu verstehen. Wenn schon kein Raumschiff zur Bergung der Entlaufenen auf die Erde herabsinkt, dann müssen wenigstens auf der Erde technische Lösungen bereitgestellt werden, die das aktuell Machbare imaginär überschreiten.

Ein Roman von großer moralischer Wucht

Wir begreifen dann die "Underground Railroad" (deren Anfälligkeit für Störungen aller Art Whitehead nicht genug betonen kann) als Allegorie einer Befreiung, nicht nur aus den Ketten einer empirisch belegten Sklaverei, sondern aus dem Gefängnis der Tatsachen überhaupt hinein in neue Dimensionen von Zeit und space. Überhaupt nährt Whitehead, wo er kann, Zweifel an einer realistischen, moralisierenden Lesart seines Romans. Als modernistischer afro-amerikanischer Autor ist er durch zu viele Schulen der Popkultur und der "Appropriations"-Fragen gegangen, als dass er hier lediglich einen Beitrag zur Erinnerungskultur im Sinn hätte. Das Allegorische der Gesamtanlage findet seinen Ausdruck auch in der Art, wie die einzelnen Bundesstaaten in ihrer Rassen- und Sklavenpolitik gezeichnet werden.

Amerikanische Literatur: Colson Whitehead: Underground Railroad. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.Carl Hanser Verlag, München 2017. 349 Seiten, 24 Euro. E-Book 17,99 Euro.

Colson Whitehead: Underground Railroad. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.Carl Hanser Verlag, München 2017. 349 Seiten, 24 Euro. E-Book 17,99 Euro.

Wie das Inhaltsverzeichnis verrät, handelt der Roman nicht sehr ausführlich von Personen (Coras Großmutter Ajarry, dem Sklavenjäger Ridgeway, dem Sklaven Caesar, der Cora zur Flucht überredet hat und anderen), dafür umso ausführlicher von Staaten (Georgia, South Carolina, North Carolina, Tennessee, Indiana, "Der Norden"), in denen er seine Handlung ansiedelt. Gewiss, wir nehmen am Schicksal der geflohenen Cora Anteil, aber das scheint nur die Route zu sein, auf der die Empathie der Leser auf die sicherste Weise ans Ziel gelangt. Viel interessanter ist etwa Georgia, der Staat, in dem bei Whitehead (und nur bei ihm) die Plantagensklaverei auf eine geradezu Tarantino-hafte Weise verwirklicht zu sein scheint, erkennbar an den furchtbaren Körperstrafen, die Randall, der Sklavenhalter, gegen entlaufene und wieder eingefangene Sklaven verhängt.

Anders ist die Lage in den Carolinas, hier ist die Sklaverei bereits abgeschafft. In South Carolina hat man die eigene Gewaltgeschichte in einen Themenpark verwandelt, in dem auch Cora, als Darstellerin ihrer selbst, eine zeitweilige Anstellung findet. Zu dieser Art Rassenpolitik gehört indes auch ein Programm, bei dem die Freigelassenen eugenischen Experimenten unterzogen werden. In North Carolina haben weiße Suprematisten mit der Sklaverei gleich auch die Sklaven selbst abgeschafft, deren Leichen nun von den Alleebäumen eines sogenannten Freedom Trail herabhängen. Tennessee wiederum ist für Menschen gleich welcher Hautfarbe anscheinend so unbewohnbar wie der Mond geworden. "Schwarze Bäume neigten sich, verkrüppelte schwarze Arme zeigten wie auf einen fernen, von Flammen noch unberührten Ort. Sie fuhren vorbei an unzähligen schwarzen Gerippen von Häusern und Scheunen, Schornsteinen, die wie Grabmale aufragten, den leeren Mauern verwüsteter Mühlen und Kornspeicher." Nichts ist realistisch an dieser Rede, alles (die schwarzen Bäume, Arme, Gerippe ebenso wie der "ferne, von Flammen unberührte Ort") wird zur Allegorie.

"Wir alle sind gebrandmarkt worden, innerlich, wenn nicht äußerlich."

Und welcher Bundesstaat repräsentiert nun das ganze, in unbewältigter rassistischer Vergangenheit und Gegenwart gefangene Amerika? Natürlich keiner, oder alle zusammen. Überdies ist ja die Verschleppung und Versklavung von Afrikanern in die USA Teil einer noch größeren Unterwerfungsgeschichte. Der Roman erinnert gelegentlich daran (oder er lässt Cora sich erinnern): "Das Land, das sie beackert und bearbeitet hatte, war indianisches Land gewesen. Sie wusste, die Weißen prahlten mit der Gründlichkeit der Massaker, bei denen sie Frauen und kleine Kinder getötet und deren Zukunft in der Wiege erstickt hatten." Und dann weiter, und wahrscheinlich nicht mehr Coras Gedanken: "Geraubte Körper bearbeiteten geraubtes Land."

Wie in vielen intelligenten Romanen hat der Autor mehr Intelligentes zu sagen, als er seinen Figuren realistischerweise in den Mund legen oder denken lassen kann. Solche Stellen, an denen die Autorenperspektive den Figuren in die Quere kommt, sind nicht selten: "Cora dankte dem Herrn dafür, dass ihre Haut nie auf diese Weise gebrandmarkt worden war. Dabei sind wir alle gebrandmarkt worden, innerlich, wenn nicht äußerlich". Der gewaltige Erfolg von Whiteheads Roman mag mehr mit solchen Schwächen zu tun haben als mit seinen Stärken. Das Realistische, Identifikatorische und generell Mutmachende der (so könnte ein Werbetext formulieren) "Reise einer jungen Frau in die Freiheit" führt den Autor verlässlicher in Oprah's "Book Club" als fraktale Experimente mit der Vergangenheit. Wer sich als Leser in den Sog einer so gut wie wahren moralischen Fabel ziehen lassen will, kommt bei "Underground Railroad" auf seine Kosten. Und erliegt zugleich einer Illusion, vor der derselbe Roman aufs Deutlichste warnt.

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