Amerikanische Literatur:Ein klein wenig anders

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Ben Lerners hinreißend schräger New-York-Roman "22:04" handelt von künstlicher Befruchtung, Samenspende und Plagiat, mit anderen Worten: von der Literatur selbst.

Von Christopher Schmidt

Etwa zur Zeit der Entwicklung des synapsiden Schädelfensters wurde mir bewusst, dass ich pinkeln musste." Ein Roman, in dem so ein Satz steht, kann gar nicht schlecht sein. "22:04" heißt dieser Roman, und er handelt von einem Schriftsteller namens Ben Lerner, der nur zufällig mit dem Schriftsteller Ben Lerner identisch ist, der ihn geschrieben hat. Denn: Vorsicht! "22:04" ist ein gefaktes Selfie, auch wenn Autor und Ich-Erzähler den selben Namen tragen und beider Biografien weitgehend übereinstimmen - bis hin zu einem Detail, das man leicht für einen ausgedachten Arty-farty-Gag halten könnte: dass Ben und Ben am Marfan-Syndrom, einer Bindegewebskrankheit, leiden und der eine wie der andere ein Aufenthaltsstipendium im texanischen Marfa erhalten hat.

Das Marfan-Syndrom spielt im Roman insofern eine Rolle, als Bens Zeugungsfähigkeit dadurch beeinträchtigt ist - was wiederum insofern eine Rolle spielt, als seine alte College-Freundin Alex sich gerade ihn, die "Pussy", als Samenspender ausgesucht hat. Ben vermutet dahinter eine neue feministische Fortpflanzungsstrategie, um potenziell katastrophale Väter an der Gründung einer Kernfamilie zu hindern. Weil er wissen will, wie es sich anfühlt, ein Kind zu haben, unternimmt Ben mit Roberto, dem achtjährigen Sohn seiner Nachbarn, einen Ausflug zu den Dinos ins American Museum of Natural History. Es ist dort, wo er plötzlich mal muss. Und weil Alex arbeitslos ist - und wohl auch aus schlechtem Gender-Gewissen -, hat Ben sich bereit erklärt, die Kosten für die künstliche Befruchtung zu übernehmen, und sich einen Finanzplan überlegt.

Ein eitel monologisierender Autor ist unschwer als J. M. Coetzee zu erkennen

Eine im New Yorker veröffentlichte Kurzgeschichte über einen jungen Autor, der eine gefälschte Email-Korrespondenz mit jüngst verstorbenen literarischen Berühmtheiten zu Geld machen will, hat ihm zu einem Buchvertrag verholfen. Mit dem Vorschuss im sechsstelligen Bereich will er die Inseminationen bezahlen. "Das Archiv fälschen, um Fertilitätsbehandlungen zu subventionieren; die Vergangenheit fingieren, um die Zukunft zu finanzieren - das gefällt mir", sagt eine ältere Schriftsteller-Kollegin bei einem Autoren-Abendessen über die Rückkopplungen zwischen Schein und Sein. An dem Dinner nimmt auch ein unerträglich eitler Schriftsteller aus Südafrika teil, unschwer zu identifizieren als J. M. Coetzee. Nachdem er das Tischgespräch mehr oder weniger monologisch bestritten hat, drückt er zum Abschied sein Bedauern darüber aus, dass er gar keine Gelegenheit gehabt habe, sich nach den großartigen Schreib-Projekten der anderen zu erkundigen.

"Ich hatte gehört, dass Taxis infolge des Sturms mehrere Fahrgäste aufnehmen konnten." Geflutete Yellow Cabs in Hoboken. (Foto: Michael Bocchieri/AFP)

Was Bens eigenes Schreib-Projekt angeht, so gefällt ihm die Idee, dass bei einer literarischen Hoffnung wie ihm das symbolische Kapital des virtuellen Romans mehr wert sei als der tatsächliche Roman, die Spekulationsblase wichtiger als das Resultat, wie seine Agentin ihm erklärt. Am Ende wird er nicht seine Kurzgeschichte zu dem Roman ausbauen, für den er den Vorschuss erhalten hat, sondern genau den Roman schreiben, den wir gerade lesen. Man darf das getrost verraten, da keine Spoiler-Gefahr besteht bei einem Buch, das ohnehin ein Meta-Roman sein will, mit ständigen Loops von Fiktion und Nicht-Fiktion. Lerner versteht das als höhere Form von Realismus.

Ben Lerner, geboren 1979 in Topeka, Kansas, gilt als literarisches Wunderkind der USA. Bekannt wurde Lerner, der eigentlich Lyriker ist, vor allem durch sein Romandebüt "Abschied von Atocha" (2011), mit dem er sich von Jonathan Franzen bis zum Star-Kritiker James Wood Lob abgeholt hat. Sein zweiter Roman "22:04", der nun auf Deutsch erscheint, ist trotz seiner selbstreferenziellen Poetologie kein akademisches Glasperlenspiel für Literatur-Nerds. Angelegt hat er das Buch allerdings mehr als Album denn als geschlossene Erzählung, dank eingefügter Bilder, mit denen Lerner Vorbildern wie Alexander Kluge und W.G. Sebald nacheifert, und verschiedener Binnenerzählungen - unter anderem zweigt Ben Geld von seinem Vorschuss ab, um im Selbstverlag ein Buch herauszubringen, das aus seinem Museumsbesuch mit Roberto hervorgegangen ist und genau vier Seiten umfasst.

Allerdings braucht der Autor eine ganze Weile, um sein Perpetuum mobile, dessen Verweise und motivischen Cluster eher viral organisiert sind, in Gang zu bringen. Das ganze Gebilde erinnert an eine freitragende Konstruktion, ähnlich der Brooklyn Bridge, die Manhattan und Brooklyn, das böse New York (Goldman Sachs) und das gute (verwuschelte Bohème) verbindet, und die im Buch immer wieder als Über-Metapher beschworen wird. Würde Ben Lerner sich nicht so hingebungsvoll darüber lustig machen, könnte es einem schon ziemlich auf die Nerven gehen: das schwatzhafte Milieu politisch hyperkorrekter Hipster und prekarisierter Akademiker, die sich von Antidepressiva und Bio-Flavonoiden ernähren. Tagsüber sitzen sie mit extravaganten Symptomen bei Fachärzten herum, abends unter altertümlichen Edison-Glühbirnen in Flüsterkneipen. Bei zu Tode massierten Baby-Oktopussen plaudert man über die Pflichtstunden im genossenschaftlichen Nonprofit-Supermarkt oder die "Poetik der modalen Instabilität" - ungerührt von den apokalyptischen Vorboten des Supersturms Sandy.

Doch spätestens, wenn Ben ausführt, dass ausgerechnet Ronald Reagan in ihm den Wunsch geweckt habe, Dichter zu werden, kann man das Buch nicht mehr aus der Hand legen. In dessen Fernsehansprache an die Nation nach dem Challenger-Absturz hatte seine Redenschreiberin eine Zeile implementiert, die tatsächlich aus einem pathetischen Gedicht eines Weltkriegs-Piloten stammt. Dieser wiederum hatte sich seinerseits aus einer Anthologie von Flieger-Lyrik bedient. Dass es sich um ein zweifaches Plagiat handelt, macht für Ben das Ganze um so faszinierender. Denn schlechte Formen von Kollektivität betrachtet er als Garanten ihrer besseren Möglichkeiten in der Zukunft. Dabei vertraut er auf ein Wort der Chassidim, das er zuerst bei Walter Benjamin gelesen hat, demzufolge es in der kommenden Welt genauso sein werde "wie hier - nur ein klein wenig anders."

Sinnhafte Ordnung aber, Erlösung also von der Kontingenz, gibt es letztlich nur in der Literatur, die, wie es einmal heißt, mehr bieten müsse "als stilisierte Verzweiflung". Und darum ist Ben so angetan von der Idee Alenas, der Frau, mit der er tatsächlich zusammen ist. Sie hat eine Galerie für Kunstwerke "mit Totalschaden" gegründet, für Objekte, die aufgrund einer Beschädigung ihren Marktwert verloren haben. Für Ben sind das utopische Readymades, die von ihrem Status als Warenfetisch befreit wurden - die Errettung der Kunst vor dem Branding.

Natürlich ist dieses Buch selbst auch ein utopisches Readymade, genauso wie das projektierte Kind, das Alex und Ben zeugen wollen - als Dauerinstallation, wenn man so will. In einer abgründig komischen Szene imaginiert Lerner einen Dialog, in dem Ben seinem künftigen Nachwuchs dessen In-vitro-Entstehung als eine Version von "Es braucht ein ganzes Dorf" erklärt. In seinem Ehrgeiz, alles mit allem zu analogisieren, überspannt Ben Lerner allerdings gelegentlich den Brückenbogen. Doch das schmälert nicht das Vergnügen an diesem scharfsichtigen Stück Hornbrillen-Literatur. "22:04" ist leuchtende Großstadtprosa gewordene Prokrastination und im besten Sinne "ein klein wenig anders".

Ben Lerner: 22:04. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 320 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.

© SZ vom 23.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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